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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

in dem geschulmeistert werden soll, damit aus deutschen Jungen keine Liebediener, sondern deutsche, freie Männer werden. Da ihn die preußische Regierung nicht vertragen konnte, so hat auch ihn das preußische Volk zu seinem Abgeordneten erwählt.

Neben ihm saß noch ein Verfolgter der Reaction, Herr von Kirchmann, Appellationsgerichts-Vicepräsident, im Jahre 1848 Mitglied der Nationalversammlung und fast immer genannt, wenn man Temme nannte. In Folge seiner Thätigkeit in jener Zeit als Mitglied der äußersten Linken ward er verfehmt und abgesetzt. Niemand konnte dies Unrecht eines Regierungssystems besser wieder gut machen als das Volk; daher sandten ihn die Schlesier diesmal in’s Abgeordnetenhaus, damit Beweise dafür geliefert würden, daß die Demokratie viel gelernt und viel vergessen habe.

Unter den neu eingetretenen demokratischen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses ist vor Allem der Professor Dr. Virchow zu nennen, als Naturforscher und Anatom eine der Zierden seiner Wissenschaft. In seinen zahlreichen wissenschaftlichen und populären Vorträgen und speciell als Stadtverordneter von Berlin hat er die Unerschrockenheit seiner Gesinnung documentirt; auf seine Veranlassung hin namentlich begann der Magistrat den Proceß gegen Patzke, der wenigstens so viel eingebracht, daß die Herrschaft moralisch längst verurtheilter Beamten ihr klägliches Ende fand und daß abermals bewiesen wurde, die Nemesis bleibe doch für keine Schuld aus. Virchow macht den Eindruck eines noch jugendlichen Mannes; die Zierlichkeit der Gestalt, das weltmännische Benehmen, die dünnen, blonden Haare, das feine Gesicht mit geistvollem, in Ironie getauchtem Ausdruck geben der Erscheinung etwas Gewinnendes, so wie es bei Cicero mit praestantia und subrisus audientium bezeichnet wurde. Wie bei Schulze-Delitzsch die Herzlichkeit überall ihre Spuren gelassen, so bei Virchow der acute, durchdringende Verstand. Man möchte sagen, aus ihm hört man den Anatomen, der nur das Object behandelt und mitleidslos in den Eingeweiden des Cadavers nach Bereicherungen der allgemeinen Wissenschaft sucht. Jeden, auch den verwickeltsten Gegenstand – wie fremd er ihm sei – behandelt er mit erstaunlicher Gewandtheit, eignet sich die Kenntniß seines innersten Gefasers in höchster Weise an; er war deshalb ein wahrer Hercules für Commissionen, ein Talisman für deren Arbeiten. Aber weit davon entfernt, nur der trockene, denkende Wissenschaftler zu sein, ist Virchow als Redner geistreich, witzig, von feingespitztester Ironie: er gleicht einem Meister der französischen Fechtkunst mit dem Floret, sicher im Ausfall und elegant dabei, kaltblütig und mit Unfehlbarkeit den Gegner bei jeder Blöße verwundend. Aus der Monotonie seiner Sprache hört man die Arbeit des Räderwerks der Gedanken heraus; die Rede entspringt eben vor Allem dem Verstande und fließt schnell, klar und glänzend dahin; nur selten, daß die leichten Wellen sich kräuseln oder durch einen Strom seelischer Empfindungen einen Strudel bilden, dessen Spitze bis in die Tiefe der Gefühle dringt.

Der Stadtgerichtsrath Twesten saß auf derselben Bank mit Virchow. Er trägt noch immer den zerschossenen Arm in der Feldbinde der Gesinnung. Mit diesem Arm hat er die Freiheit und die Ehre des Schriftstellers gegen den General von Manteuffel vertheidigt, der ihn bekanntlich wegen der Angriffe auf das Militärcabinet in der Broschüre: „Was uns noch retten kann!“ zu einem Pistolenduell aufforderte. Twesten hat ein jugendliches Aussehen; das blühende Gesicht mit der etwas starken, gestülpten Nase, die offenen, großen Augen, die schwarzen Lockenhaare geben ihm etwas Studentenartiges, welches mit der übrigen Männlichkeit seines Wesens eine sehr glückliche Verbindung eingegangen ist. Seine Collegen rühmen die juristische Tüchtigkeit; über seinen Geist, sein Wissen, sein feines kritisches Talent, die Schönheit seines Denkens belehrt der große Aufsatz über „Schiller im Verhältniß zur Wissenschaft“, der sich in den neuesten Heften der von Oppenheim herausgegebenen, trefflichen „Deutschen Jahrbücher“ befindet und dessen größere Verbreitung durch Separatabdruck gewiß allgemeinen Dank eintragen würde. Daß Twesten auch ein sehr gewandter, ruhiger, klarer Redner ist, bewies er durch die Vertheidigung des Commissionsantrages in der kurhessischen Frage.

Dr. Lüning gehörte gleichfalls zu den parlamentarischen Novizen, welche bereits in die vordersten Reihen der Kämpfer eingetreten waren. Er ist von imposanter Figur, mit dem Kopf eines französischen Generals, welchen Ausdruck er namentlich durch den flachsfarbenen Henry IV.-Bart erhält. Auch er gehörte zu den besten Rednern des Hauses. – Unweit von ihm saß Dr. Beitzke, der treffliche Geschichtschreiber der Befreiungskriege von 1813– 1815; man sieht ihm, gleich den alten Major an. – Franz Duncker, der jüngste und vorgeschrittenste Sproß der Berliner Duncker, hatte sich ebenfalls hier niedergelassen; er war der Repräsentant der Volkszeitung, die er zum Theil redigirt und mit deren wachsender Bedeutung auch er mehr und mehr den Charakter einer politischen Person annahm, den Buchhändler dagegen in den Hintergrund treten ließ. Man könnte ihn den Adjutanten der demokratischen Partei in Berlin nennen. Das starke Haar und der dichte, zu früh grau melirte und einst rothe Vollbart geben ihm ein etwas grimmiges Aussehen; aber in Wirklichkeit ist Franz Duncker ein ganz sanfter und auch ein recht liebenswürdiger Mann, der Princip und Sache wohl zu trennen weiß.

Im Hintergrunde sah man den sogenannten „rothen Becker“, den Dortmunder Abgeordneten. Er gab während der Revolutionszeit 1848 die radicale „Rheinische Zeitung“ heraus, deren letzte Nummer in rother Schrift gedruckt wurde. Dann spielte er eine bedeutende Nummer in dem Communistenproceß zu Köln, der aus lauter Fälschungen des Polizeihasses jener Zeit zusammengebraut wurde. Man verurtheilte Becker damals zu fünfjährigem Gefängniß. Nach seiner Freilassung wollte ihm die Regierung, trotz der neuen Aera, nirgends ein Domicil gestatten; da mußten denn wohl die Dortmunder ihn als Abgeordneten nach Berlin schicken, damit er ein Asyl fand. Den Namen des „rothen Becker“ hat er übrigens seit seiner Schulzeit in Folge der röthlichen Haare. – Auch Dr. Rupp ist nicht zu vergessen, jener lange Mann mit dem grauen, zurückgestrichenen Lockenhaar und dem pastorischen Antlitz: er ist der Prediger der freien Gemeinde in Königsberg und befand sich hier, um die Religionsfreiheit zu vertreten. – Hinter ihm saß Prince-Smith, der philosophische Nationalökonom; unweit davon Michaelis, der praktische Volkswirth der Nationalzeitung; weiter links der französisch lebhafte, auf den Congressen agitirende Nationalökonom Jules Faucher.

Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten war noch der Vicepräsident Behrendt, eine stattliche, kräftige Figur, die so recht Freiheit des Bürgerthums und die Routine eines öffentlichen Wesens repräsentirt. Aus dem Antlitz spricht Energie, Scharfsinn, Lebhaftigkeit und Geist, und alle diese Eigenschaften zeigten sich auch in den Reden Behrendt’s, der sowohl als politischer Charakter, wie als Redner schon eine parlamentarische Vergangenheit aufweisen kann. In der vorigen Session führte er die vorgeschrittenste Fraction der Vincke’schen Partei.

Als einer der interessantesten Geister unter den neu eingetretenen gab sich Dr. Frese zu erkennen, bekannt durch die Uebersetzung der Lewes’schen Biographie Goethe’s und als Herausgeber einer Kammercorrespondenz. Der blühende Mann mit jugendlich-üppigen Formen gehörte unter die Redner, welche ihre parlamentarische Schule noch durchzumachen haben, und erinnerte jetzt noch an den Ton der demokratischen Clubredner, denen der Effect über Alles geht. Wie ein Camille Desmoulins sprudelte dieser Feuerkopf witzig und unbekümmert um die Rücksichten der Persönlichkeiten seine Gedanken aus; er schoß hastig, oft in gewinnendster, liebenswürdigster Leidenschaftlichkeit seine Pfeile vom Bogen, als sei er sicher, daß sie treffen müßten. Die Menge der Feinde erließ freilich ein bedächtiges Zielen. Er streifte zum Gaudium der Tribünen stark an die äußersten Grenzen des parlamentarisch Erlaubten und gab doch dem Präsidenten keine Gelegenheit, das Damoklesschwert des Ordnungsrufes auf ihn fallen zu lassen; wenn der Präsident noch die letzte Keckheit der Rede überdachte, hatte der Uebermuth des jungblütigen Redners schon eine neue fallen lassen, unschuldig fast, wie ein Kind Blumen verliert. Frese war unstreitig frisches Blut für dies Haus der Abgeordneten; er rührte in dem alten Sauerteig, er tanzte auf einem Vulcan, er spottete über sehr Ehrbares, er sagte – was für das Volk nie, wohl aber für die Könige unangenehm ist – ganz ungeschminkt die Wahrheit über das, was das politisch aufgeweckte Volk fühlt, und denkt.

S.-W.




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