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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

mit einer Anzahl der Gefangenen beschenkt, möglichst schnell nach Hause zu kommen suchte, um in Betracht des bedenklichen Anzugs unbemerkt einschlüpfen und noch einige Stunden bis zur gewöhnlichen Aufstehzeit der Stadtmenschen der Ruhe pflegen zu können, die man um so nöthiger hatte, als Einem an diesem Tage noch die Anstrengung des Krebsessens bevorstand.




Silhouetten vom preußischen Landtage.
2. 0Koryphäen der Fortschrittspartei.


Der 11. März im 14. Jahre des constitutionellen Staats in Preußen hat zum zweiten Male einer vom Volke frei und offen nach seinem Herzen gewählten Versammlung seiner Vertreter den Scheidebefehl der Krone gebracht. Das preußische Volk war in seinem Rechte, eine solche Versammlung zu wählen, und sein König war in seinem Rechte, sie aufzulösen. Soweit bietet der Act nichts Außerordentliches; seine besondere Bedeutung erhält er durch die Zeit, in welcher er geschah, und durch die Beweggründe, die ihn möglich machten. Das preußische Volk, die deutsche Nation kennen sie, und beiden stellt eine geschichtliche Parallele die letzte Nothwendigkeit vor die Augen: – wie einst dem Papstthum gegenüber gilt es heute in der Monarchie von einem schlecht unterrichteten an einen besser zu unterrichtenden König zu appelliren, und die unterrichtende Stimme kann einzig und allein aus der neuen Vertreterwahl des durch sehr ernste Erfahrungen über das, was ihm Noth thut, und das, was ihm zum Heil gereicht, nunmehr gründlich unterrichteten preußischen Volks sprechen.

Das aufgelöste Abgeordnetenhaus hielt außer der Hagen’schen bisher nur zwei bedeutende Sitzungen; sie waren der unglückseligen kurhessischen Frage gewidmet. Aber in der zweiten dieser Sitzungen ereignete sich Etwas, dessen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Der Abgeordnete Schulze, seit vierzehn Jahren bekannt als Schulze-Delitzsch, brachte von der Tribüne herab den Parteinamen der Demokratie wieder in’s Leben und forderte stolz die Anerkennung ihrer Leistungen auf wirthschafllichem Gebiete. Die Partei, welche den Kern der linken Seite des Hauses bildete, ist in Wahrheit die preußische Demokratie, und es war ein Sieg für sie, daß Schulze-Delitzsch auf ihre dichten Phalangen hinzeigen konnte. Schulze-Delitzsch war der eigentliche Quirl dieser Partei im Abgeordnetenhause, die disciplinirende Seele. Es gab noch mehr Oberfeldherren; aber Schulze war der General in den Schlachten, vielfach sonach das eigentliche Haupt der Schaar. Seine ruhmvolle Thätigkeit auf dem Felde der Genossenschaften und Vorschußvereine für den kleinen Handwerker ist allgemein gekannt und auch in der „Gartenlaube“ früher schon des Ausführlichen erzählt worden. Wenn irgend Einer der preußischen Abgeordneten Thaten aufweisen konnte, um deren willen er den Platz auf dem curulischen Stuhl erhalten hatte, so war es dieser Mann, der durch rastloseste Arbeit, uneigennützig geleistete Mühen und seltenste Aufopferung für die Sache der Volkswohlfahrt ein echt demokratisches Princip zur Ausführung brachte und ein Wohlthäter für Millionen wurde. Begeisterung setzt ihn in einige Unruhe und Geschäftigkeit; man sah ihn selten still auf seinem Platze im Saale, sondern immer von einem Freunde zum andern eilen, plaudern, herzlich die Hand schütteln, lebhaft gesticuliren. Die gedrungene, kraftvolle Gestalt prägte sich augenblicks dem Gedächtniß ein, und das ausdrucksvolle Gesicht mit dem weißen Albabart, überschattet von blondem, fast künstlermäßig geordnetem Haar, erhöhte das Interesse des Betrachters nicht wenig. Schulze-Delitzsch ist vom seltenen Schlag der Volkstribunen; er war nicht nur der populärste, sondern auch der hinreißendste Redner des Hauses; er hat die Gabe, begeistern oder erschüttern zu können, denn die Worte entsteigen dem warmfühlendsten, bewegten Herzen. Der breite sächsische Dialekt heimelt sofort gemüthvoll an und namentlich, wenn die Ironie ihren Ausdruck erhält. Aber so ironisch Schulze in seinen Reden sein kann, um die Kleinlichkeit des Gegners sichtbar zu machen, so gewaltig rührt er die Tiefen seines inneren Ernstes auf, wenn er für seine Sache plaidirt. Dann strahlt aus den immer freundlichen, kleinen Augen der Glanz innerer Begeisterung und sie werden groß, ernst, ja drohend; dann verschwindet fast der Dialekt, und die Sprache tönt sonor und fest durch den Saal. Wucht der Gedanken kettet schnell Satz an Satz in klarer, fester Gliederung; Begeisterung giebt der Rede farbige Bilder und jene dämonische Macht, welche die Herzen der Zuhörer ohne Widerstand Unterthan macht, so lange bis sie vom Bann befreit sind.

Der Generalissimus der preußischen Demokratie, gewissermaßen der Stratege, war der Geheime Obertribunalrath Waldeck. Beim ersten Blick über die Versammlung fiel die hagere, große Gestalt mit dem schneeweißen Haupt in die Augen. Waldeck hat einen der charaktervollsten Köpfe; die Linien desselben haben etwas Antikes, Römisches; in dem durchfurchten Gesicht liegt gramvoller Ernst seltsam um einen fuchsartigen Ausdruck der Augen gebettet. Seit den Zeiten der Nationalversammlung ist dieser Mann der Führer der Demokratie, und die Leiden, die Verfolgungen, die ihm von der ersten Wuth der Reaction bereitet wurden, die strenge Redlichkeit, mit welcher er seinen Grundsätzen treu geblieben, hatten ihm diese Stellung gesichert, trotzdem in manchen Punkten, namentlich bezüglich der deutschen Frage, die Partei anders denkt als er. Im Jahre 1848 gruppirte Waldeck aus der Partei der äußersten Linken die am meisten nach rechts gelegene Schattirung um sich und operirte meist nur darauf hin, durch Transactionen mit den andern Fractionen sich die Majorität zu sichern. Dadurch wurde er das proclamirte Haupt der vielfach aus republikanischen Elementen bestehenden äußersten Linken der Nationalversammlung, und die Reaction sieht in ihm noch immer das rothe Gespenst. Gleichwohl hat Waldeck in der Vertheidigungsrede bei Gelegenheit seines Processes ausdrücklich den Beweis geführt, daß er republikanische Gesinnung niemals gehabt, und daß er als Katholik auch die Freisinnigkeit nicht so weit wie als Politiker versteht, bewies er durch die Energie, mit welcher er 1848 der Kirche nicht den Zehnten verkürzt wissen wollte. Um so eifriger erstrebte er jedoch Freiheit in der Gemeinde und der staatsbürgerlichen Rechte. In dieser Beziehung ist Waldeck’s Verdienst höchster Anerkennung werth und der geklärteste, autoritätsvollste Ausdruck des Demokratie. Bei einer Neuwahl 1860 gelang es ihm, zum ersten Mal wieder seit 1848 als Abgeordneter gewählt zu werden. Eben darum, weil er das Haupt der 1849 niedergeworfenen, beschimpften und verfehmten demokratischen Partei war, nahm diese Wahl die Größe eines politischen Ereignisses an. In der Rede, welche er vor etwa Jahresfrist von der Tribüne des Abgeordnetenhauses hielt, gab er das Glaubensbekenntniß der versöhnten, wieder in die öffentliche Arena eintretenden Demokratie ab, und danach hat sich vielfach die jetzige deutsche Fortschrittspartei organisirt.

Gleich hinter Waldeck saß im Hause der Abgeordneten Taddel, der alte Geheime Justizrath mit dem ehrenvollen a. D. (außer Diensten). Der kleine Herr mit dem kahlen, an den Schläfen mit Silberhaar gezierten Schädel und dem freundlich-vornehmen, klugen Gesicht ist der Bayard des preußischen Richterstandes, der Richter ohne Furcht und Tadel, welcher den Proceß Waldeck leitete und gegenüber der Polizeiarroganz Hinckeldey’s die Würde des Gerichtshofes mit unerbittlicher Strenge aufrecht zu halten wußte. Einen solchen Ehrenmann konnte die Reaction, die nur Schranzen zu benutzen weiß, nicht gebrauchen. Das Volk versteht wahre Tugenden des Charakters besser; daher gab es dem in Ungnade gefallenen Taddel ein Vertrauensmandat als Abgeordneter.

Etwas ähnlich in äußerer Erscheinung dem Vertreter des freien preußischen Richterstandes ist der Märtyrer der freien Pädagogik, Dr. Diesterweg. Nur ist die Structur dieser Gestalt derber; das kahle Haupt mit dem Kranz von weißem Haar scheint mehr Zeichen der Gedankenarbeit als schwindender Manneskraft zu sein; die Physiognomie hat etwas Schalkhaftes, die klugen Augen leuchten von innerem Feuer. Das ist der Mann, der im freien Geiste Pestalozzi’s gelehrt hat und deshalb von dem kleinlichen Geist der preußischen Schulregulative um sein Amt gebracht wurde; das ist der alte Diesterweg, der noch immer so viel lehrt, ohne gleichwohl eine Schule zu haben, der ein Schulmeister bester Art für das deutsche Volk geworden ist und als solcher den Geist predigt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_206.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)