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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

sich meine Gäste. Eben hatte ich die letzten, einige junge Damen, die mich gar zu gern von meinem Junggesellenstande erlöst hätten, bis an die Hausthüre zu ihrem harrenden Wagen gebracht, und dieser war abgefahren, als ich plötzlich eine bleiche, schlotternde, kaum nothdürftig gegen die strenge Kälte geschützte weibliche Gestalt vor mir sah. Sie blickte mich mit eingesunkenen Augen an, die Straßenlampe warf nur ein spärliches Licht herüber, aber ein plötzlicher Schrecken durchfuhr mich beim Anblicke dieses Gesichts, das ich kennen mußte. „Seid barmherzig!“ klang es tonlos aus ihrem Munde, und beim ersten Lautwerden dieser Stimme schrie ich auf, ich nannte einen Namen, der mir der theuerste auf der Welt war, und sie zuckte zusammen, ihre Augen wandten sich groß und wie halb entsetzt nach mir; dann streckte sie mit einem unarticulirten Ruf ihre Arme nach mir aus und wankte; ich aber hatte sie schon, meiner Sinne kaum mächtig, umschlossen, ich hob sie auf wie ein Kind und stürmte mit ihr, während ich nach der Dienerschaft rief, dem Zimmer zu – denn, Gentlemen,“ fuhr der Erzähler mit zitterndem Tone fort, „die da an meiner Thüre halb erfroren stand, war sie, der Abgott meines ganzen Lebens.

Wenige Worte von ihr, die sie schluchzend und gebrochen mir mittheilte, als ich sie in den weichsten Lehnstuhl an das Feuer gebettet, gaben mir mit einem Schlage volles Licht. Ihre Eltern waren schon mehrere Jahre todt, ihr Mann hatte ihr reiches Vermögen zum großen Theile verpraßt und war mit dem Reste und einer Concubine entflohen; sie hatte ihre sämmtlichen Habseligkeiten verkauft, um wieder nach London zurückgelangen zu können, aber das Geld war nicht hinreichend gewesen; zu Fuß hatte sie die letzten Stationen zurückgelegt, hatte sich ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen und war endlich rath- und hülflos in den Straßen Londons umhergeirrt.

Aber das überströmende Gefühl meines Glücks, als ich sie glaubte dem Elende entrissen zu haben, sollte nicht lange währen – eine völlige Bewußtlosigkeit folgte ihren ersten krampfhaften Aeußerungen, und bald stellten sich noch beunruhigendere Symptome ein. Ich hatte sie zu Bett bringen lassen und nach dem Arzte geschickt – dieser zuckte indessen die Achseln, gab strenge Anordnungen und empfahl mir, nach Anhörung des Sachverhältnisses, nicht zu viel zu hoffen. Ich verbrachte die Nacht an ihrem Bett, sah Bewußtlosigkeit mit halber Fieberraserei wechseln, hörte sie meinen Namen wie in höchster Noth rufen und hätte mir den Kopf an der Wand zerstoßen mögen, daß ich nicht helfen konnte. Am andern Abend war sie eine Leiche, und ich saß in dumpfer Verzweiflung, ihre kalte Hand in der meinen, an ihrem Lager.“

Der Erzähler hatte mit bebender Stimme die letzten Worte gesprochen, den Kopf schwer über den Tisch sinken lassen, und ein paar große Thränen rollten in sein leeres Glas. Mich hatte diese letzte Scene so ergriffen, daß ich, um nur dem Eindrücke zu entkommen, von Neuem nach „Gin und Zucker“ rief. Der Gebeugte griff mit einem stillen Kopfschütteln nach der erneuerten Ladung und fuhr dann fort:

„Seit dieser Zeit war ich ein gebrochener Mensch. Ich mochte London nicht mehr sehen, verkaufte mein Geschäft um die Hälfte des Werths und ging hierher. Aber der Gram war mein Reisegefährte. Ich suchte ihn durch jede Art von Zerstreuung zu tödten, ich stürzte in den Strudel aller möglichen Vergnügungen und wurde endlich nur inne, daß ich mein Geld verthan, ohne etwas dafür gewonnen zu haben. Ich ward endlich zum Bettler, aber was lag daran, da mir das ganze Leben nichts mehr galt? Ich hoffe ja nur, daß es bald zu Ende gehen und der Tod mich mit ihr vereinen soll, die auf mich wartet.

Jetzt, Gentlemen, wissen Sie, warum ich an Spiritualismus und selbst an Seelenwanderung glaube. Einst vielleicht fühlen sich unsere Seelen, mit neuen Körpern vereinigt, in unwiderstehlicher Sympathie zu einander hingezogen und wir erhalten Ersatz für das, was unser jetziger Lebenslauf uns versagt hat. Sie wissen auch nun, warum meine Kleider zerrissen sind, warum ich mich im Gin betäube, und Sie werden nicht mehr spotten, denn noch wissen Sie nicht, unter welchen Verhältnissen Sie selbst sich einmal nach der Stunde sehnen, in der Sie Ihr müdes Haupt zur Ruhe niederlegen können.“ Er schwieg.

Wir waren sehr ergriffen von der Erzählung. Wir bemitleideten den alten Mann von Herzen, der nur durch seine Seelenleiden zu einer Art fixer Idee gekommen zu sein schien, und als ich mein Portemonnaie zog und Mader einen heimlichen Wink gab, war dieser sofort bereit, wenigstens so viel in unserer Macht stand, für seine augenblicklichen Bedürfnisse beizusteuern.

Er nahm das Geld mit ruhiger Würde, dankte und erhob sich etwas schwankend, um das leer gewordene Local zu verlassen.

„Ist der Mann oft hier?“ fragte ich den Aufwärter, als ich bezahlte.

„Sie meinen den alten Sünder?“ erwiderte der Befragte lachend, „jawohl, so oft, als wir ihm nicht gleich vorn Anfange die Thür zeigen.“

„Aber wie kommen Sie dazu einen Unglücklichen so hart …“

„Einen Unglücklichen?“ lachte der Aufwärter. „Ein unverbesserlicher Trinker und Faullenzer ist er, für dessen Frau und Kinder das Armenhaus sorgen muß. Er selbst aber erschwindelt sich durch allerhand rührende Geschichten so viel, daß er zur Noth leben kann und freies Trinken hat – er sieht es auf der Stelle Jedem an, der noch grün in unserm Lande ist –“

„Aber der Mann hat hier geweint!“ rief ich halb verblüfft.

„Hat er das? Ja das ist immer seine Manier, wenn er wirken will und durch den Gin nach und nach warm wird,“ war die Antwort.

Mader sah mich und ich ihn an – Keiner sprach ein Wort, als wir in unsere Röcke gehüllt den Heimweg antraten.

O. R.



Das Schneeglöckchen.

Der fröhliche Frühling zieht in den Hain
Zur ersten stillen Weihe ein.
Noch trotzt der Winter in todter Pracht,
Doch sieh, das blühendste Leben lacht

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Hervor aus seines starren, kalten,

Von Eisduft glitzernden Mantels Falten.

Im Ofen kein Holz, auf dem Tisch kein Brod,
Gut Mütterlein krank vor Sorge und Noth.
Da lief klein Aennchen zum Walde hinauf

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Und las die Reiser zum Bündelein auf,

Und spähte umher, und da ist’s ja gefunden,
Sein liebstes Plätzchen so manche Stunden.

Ei, sitzt es darin wie im eigenen Haus!
Es ist recht müde, nun ruht es aus,

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Die Händchen gehuschelt in’s Schürzelein:

Da kann der garstige Wind nicht herein.
Und wie’s ihm so wohl thut, wie heimliche Freude,
Giebt Gott ihm „das tägliche Brod auch heute“.

Da ragt’s aus dem Schnee so blättergrün,

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Da nicken so weiß die Köpfchen und blühn!

Schneeglöckchen, die ersten, winken Dir dort!
Ei, bleibe nur ruhen, sie springen nicht fort.
Mußt ja gar viele Straßen laufen,
Um des Frühlings ersten Gruß – zu verkaufen.

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Wie blickst Du so froh, weil Dein Auge spricht:

„Lieb Mütterlein, wart’ nur, heut weinen wir nicht!“
Schneeglöckchen! fürwahr, so viel da sind,
Bist Du das schönste, Du armes Kind!
Dich wählte, daß wieder sein Walten gedeihe,

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Der Frühling zur ersten und heiligsten Weihe.
Friedrich Hofmann.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_196.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)