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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 13.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Kleine amerikanische Sittenbilder.

Nr. 4. 0Ein neuer Industriezweig.


Den Broadway in New-York entlang pfiff ein so kaltes Lüftchen, zu Eis gefrorene Schneeflocken vor sich her jagend, wie ich es nur jemals während eines harten Winters in Deutschland hatte kennen lernen. Ich kam mit einem Landsmanne, Karl Mader, an welchen mich gleiche Verhältnisse und gleicher Geschmack hatten anschließen lassen, aus der obern Stadt, wohin uns eins von Ole Bull’s Concerten gezogen, und als Jener ein Glas heißen Punsch zur Erwärmung für unsere halb erstarrten Glieder vorschlug, kam er nur meinem eigenen Wunsche zuvor. Das nächste hellerleuchtete Trinklocal ward zum Ziele genommen, und bald saßen wir an einem einsamen Tischchen, mit Behagen die belebende Flüssigkeit einschlürfend.

Mader hatte eben einige launige Bemerkungen über die verschiedenen Gruppen von Amerikanern, welche den Schenktisch umlagerten, gemacht, als sich plötzlich ein Stuhl in den Raum zwischen uns schob und eine darüber gebeugte Gestalt mit einem schwermüthigen Lächeln nach uns Beiden sagte: „Guten Abend, Gentlemen, entschuldigen Sie mich!“ Damit aber hatte der Mann sich auch bereits niedergelassen, warf einen Blick nach unsern Gläsern und fragte mit einem melancholischen Kopfschütteln: „Brandy?“

Wir sahen uns Beide etwas überrascht an, der Eindringling schien indessen kaum auf uns zu achten, legte den Kopf zurück und schloß die Augen halb; Mader aber, der einen raschen, kritischen Blick über die etwas schäbige Erscheinung des Fremden geworfen, winkte mir mit den Augen, als erwarte er hier ein unvorhergesehenes Amüsement. Da begann der Dasitzende plötzlich mit einer Stimme, die jedenfalls einen elegischen Klang haben sollte:

„Wohl ist Wohl, und Schmerz ist Schmerz,
Was uns weh thut, fühlt das Herz!“

„Sagten Sie etwas?“ rief ihn Mader an, und wie aus dem Schlafe erwachend fuhr der Angeredete auf, ließ einen verwunderten Blick durch das Local schweifen und erwiderte dann:

„Habe ich etwas gesprochen, Gentlemen? O, ich war das nicht, der sprach, es war Byron’s Geist, der meine Lunge in Anspruch nahm!“

„O, so sind Sie ein Spiritualist, ein Medium!“ lachte mein Gefährte auf.

„Beides zu meinem Schmerze, und ich könnte Ihnen Dinge erzählen – aber bitte, bestellen Sie keinen Brandy für mich!“ unterbrach sich der Sprecher, die Hand abwehrend ausstreckend.

„Sicherlich nicht!“ erwiderte Mader.

„Weil ich,“ fuhr der Fremde fort, als habe er den Einwurf nicht gehört, „stets nur Gin mit Zucker trinke!“

Mader lachte; ich aber, dem eine solche Erscheinung neu war, bestellte den Gin.

Der Fremde schlürfte sein Glas mit einem zerstreuten Blicke, wischte sich mit einem baumwollenen Taschentuche die Stirn und sagte dann: „Sie werden jedenfalls meinen Namen wissen wollen, Gentlemen – ich heiße auf dieser Welt gegenwärtig Mac Feargus. Vor Zeiten hätten Sie mich unter einem andern Namen kennen lernen.“

„Ah, und unter welchem?“

„Noah!“

„Meinen Sie den Vater von Sem, Ham und Japhet?“

„Nein! ich meine zwar dasselbe Individuum, auf das Sie hinweisen, allein das hatte keine solchen Söhne.“

„Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen widerspreche!“ erwiderte Mader entschieden.

„Sicherlich, Sir; aber da ich selbst früher dieses Individuum war, leuchtet es Ihnen vielleicht ein, daß ich das selbst am besten wissen muß. Ich könnte wohl, da ich soeben die Erleuchtung in mir fühle, Jedem von Ihnen sagen, wer Sie vor Zeiten waren, allein Sie würden mir keinen Glauben schenken.“

„Nur los damit, und vielleicht glauben wir!“

Von Neuem legte der Fremde den Kopf zurück und schloß die Augen halb, riß sie aber nach etwa drei Secunden groß wieder auf und sagte, sich zu Mader wendend: „Sie waren Judith!“

„Hallo, hallo!“ lachte dieser. „Haben Sie sich nicht im Geschlecht geirrt?“

„Der Geist kennt kein Geschlecht!“ war die ernste Antwort. „Und Sie,“ wandte sich der Sprecher an mich, „gehörten zu den gemordeten Kindern von Bethlehem!“

Wir konnten eine Zeitlang nicht aus unserm Lachen heraus kommen, unser Gesellschafter aber sah schwermüthig drein, roch in sein leergetrunkenes Glas und sagte: „Sie mögen mich, wie ich merke, für einen passenden Gegenstand Ihres Amüsements halten, aber, Gentlemen, Sie würden anders urtheilen, wenn ich Ihnen die Geschichte eines Weihnachtsabends erzählen sollte, Sie würden begreifen, warum meine Kleider jetzt geflickt, meine Wäsche zerfetzt und meine Schuhe voll Löcher sind, würden verstehen, wie sich ein Mann als der letzten Hoffnung, die ihn noch aufrecht erhält, der Metempsychosis ergeben und die Ueberzeugung einer ewig vor sich gehenden Seelenwanderung erlangen konnte.“ Er griff mit einem tiefen Seufzer nach seinem Glase, aus welchem er die letzten zwei Tropfen in seinen Mund laufen ließ; ich aber, dessen Interesse für den sonderbaren Kauz geweckt war, sagte: „Nehmen Sie noch ein Glas Gin von uns an und erzählen Sie, Sir, wenn Sie nichts Besonderes davon abhält!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_193.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2020)