Seite:Die Gartenlaube (1862) 179.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

„Freilich,“ erwiderte er, „was“ denn anders, Kind? Mein lahmer Staarmatz und der alte Herr mit den Brillenaugen dort draußen vor dem Fenster, es sind zu Zeiten schon ganz unterhaltende Gesellen; aber sie gehören denn doch, wie Hegel sagt, zu dem schlechthin Fremdartigen; und mitunter, glaub’ ich, verstehen sie mich nicht ganz.“

Ich sah ihn zärtlich an und schüttelte den Kopf.

„Nun, nun,“ fügte er sanft hinzu; „vielleicht ist es auch die Furcht, daß Du allein seist.“

– – – – – – – – –

Hier brachen die beschriebenen Blätter ab.


4. Ein anderer Tag.

Die schweren Fenstervorhänge des Wohnzimmers schienen heute fast zu dunkel; denn draußen über dem Garten lag ein feuchter Octobernachmittag. – Zwischen der Gutsherrin und ihrem jungen Verwandten war so eben ein Gespräch verstummt, das von besonderer Bedeutung gewesen sein mußte; denn während sie an ihren Schreibtisch ging und das Heft hervornahm, woran sie vor einigen Wochen geschrieben hatte, lehnte er in der Fensternische und blickte augenscheinlich mit einer schmerzlichen Verstimmung kämpfend in den trüben Tag hinaus.

„Lies das, Rudolph, lies es jetzt gleich,“ sagte sie, die Blätter vor ihm auf die Fensterbank legend; „ich dachte, es sei nur für mich selbst, als ich es niederschrieb; aber ich vertraue Dir, und es wird gut sein, wenn Du weißt, wie es einst mit mir gewesen ist.“

Er nahm schweigend das Heft und begann zu lesen. Sie sah ihm eine Weile zu; dann setzten sie sich in einen Sessel vor dem Kamin, in welchem der kühlen Jahrzeit wegen schon ein leichtes Feuer brannte. – Sie durchdachte noch einmal den Inhalt des Geschriebenen, und unwilkürlich schrieb sie in Gedanken weiter. Wie Nebelbilder erhellten sich einzelne Scenen ihrer Vergangenheit vor ihrem innern Auge und erblaßten wieder. Als Rudolph einmal unter dem Lesen einen Blick nach ihr hinüberwarf, sah er, wie sie die geballten Hände gegen ihre Augen drückte. Es waren die Tage ihrer Hochzeit, die grell beleuchtet vor ihr standen. Sie suchte mit körperlicher Gewalt der Bilder Herr zu werden, die sich frech und meisterlos zu ihr herandrängten und nicht weichen wollten. – Und es gelang ihr auch. Es wurde finster um sie her; ihr war, als ginge sie durch den Bauch der Erde. Sie hörte vor sich einen kleinen schlürfenden Schritt; in tödtlicher Sehnsucht streckte sie die Arme aus; sie wußte es, es war ihr todtes Kind, das vor ihr ging, ganz einsam durch die dichte Nacht; es konnte nicht fort, es hatte Erde auf den kleinen Füßen. Aber wo war es? Ihre zitternden Hände griffen umsonst in die leere Finsterniß. – Da blickten ein Paar Augen durch die Nacht, und es wurde wieder hell; denn diese Augen gehörten noch dem Leben an. „Arnold!“ sprach sie leise. – So hatte er sie angeschaut, als die kleinen Augen ihres Kindes sich geschlossen, tröstlich und doch ein Spiegel ihres Schmerzes; so auch, jahrelang nach jenem stummen Abschiednehmen dort im Garten, als sie in der Residenz, mit ihrem Gemahl in eine Gesellschaft tretend, ihn zum ersten Male wiedergesehen hatte. Sein Name war damals schon ein vielgenannter; er war ein Mann von „Distinction“ geworden, und auch hochgestellten Personen schmeichelte es, ihn unter ihren Gästen nennen zu können. So geschah es, daß sie sich von nun an zuweilen am dritten Orte sahen; bald aber kam er auch in ihr Haus, oft und öfter, zuletzt fast täglich wenn auch nur auf Augenblicke. Was er für seine Vorlesungen, was er sonst zur Veröffentlichung niederschrieb, es war zuvor im geistigen Austausch zwischen ihnen hin und wieder gegangen. – Mittlerweile war ihr Kind geboren und nach kaum Jahresfrist wieder gestorben. Sie hatten sich dadurch unwillkürlich um so fester an einander geschlossen; sie ahnten wohl selber kaum, daß ihr Verhältniß allmählich ein Gegenstand des öffentlichen Tadels geworden sei. Auch dem Gemahl der jungen Frau schien dies verborgen geblieben; sein Amt vergönnte ihm nur wenige Augenblicke in seinem Hause; er suchte überdies nicht dort, sondern in den tausend kleinen Dingen bei Hofe den Schwerpunkt seines Lebens. – Es kam dennoch. – Die Vorlesungen des jungen Professors über neuere Geschichte waren plötzlich Modesache geworden, und neben den Studenten saß die elegante Welt beiderlei Geschlechtes auf den Bänken des großen Auditoriums. – Eines Nachmittags war auch sie in Begleitung ihres Mannes dort. Sie saß an einem Ende der ersten Bank dem Katheder gegenüber; aber die beredten Worte ihres Freundes vermochten sie nicht zu fesseln. Während alle Andere an seinen Lippen hingen, hafteten ihre Augen an einer Stuckverzierung in der Decke, welche sich gerade über dem Katheder befand. Es war eine schwere, aus Gyps geformte Muschel; aber sie sah es deutlich, sie hatte sich gelöst, und wenn sie fiel, so mußte sie das Haupt des begeisterten Mannes treffen, der ahnungslos darunter stand. Seine Worte klangen ihr nur wie das Rauschen eines fernen Stromes; mit steigender Angst beobachtete sie den schwarzen Spalt, der schon die Muschel von der Decke trennte. Und es war kein Zweifel, er hatte sich vergrößert, und bald mußte der Augenblick kommen, wo die schwache Verbindung völlig zerriß. Keiner außer ihr sah das; mit Todesangst hingen Ihre Augen an der Decke. Da – es that einen Ruck, und mit einem Schrei war sie aufgesprungen und lag in den Armen ihres Freundes, den sie mit Gewalt vom Katheder herabgerissen hatte. – Die Vorlesung war unterbrochen; aber die Muschel war nicht gefallen, sie saß an derselben Stelle, wo sie seit einem halben Jahrhundert gesessen hatte. Die beschämte Frau schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie die trockene Stimme ihres Gemahls hörte, der sie unter den tausend schadenfrohen Blicken der Anwesenden aus dem Saale führte. – – –

Rudolph hatte indessen die Geschichte seiner Verwandten gelesen, soweit jene Blätter sie enthielten. Er blickte durch das Fenster den Buchengang hinab. Dort am Ende desselben hinter der Lindenallee lag der Tannenwald, in dem damals um einen ihm unbekannten Menschen von niedriger Herkunft ihre heißen Thränen geflossen waren. – „Und wie kam es dann später?“ fragte er nach einer Weile, während er die Blätter aus der Hand legte.

Sie blickte auf, als müsse sie erst den Sinn zu dem Wortlaute finden, der eben an ihr Ohr gedrungen war. „Dann,“ sagte sie endlich, – „dann kam ein Augenblick der Schwäche.“

„Du hast ihn wiedergesehen, Anna!“

Eine dunkle Röthe bis unter das schwarze Haar überlief ihre Stirn. „Nein,“ sagte sie, „das war es nicht. Aber ich war so jung; ich duldete es, daß mich mein Vater einem fremden Mann zur Ehe gab.“

Noblesse oblige!“ erwiderte er leichthin. „Was hätte denn geschehen sollen?“

„Sprich nicht so, Rudolph; die Anmaßung wird nicht schöner dadurch, daß man sie als ein apartes Pflichtgebot formulirt.“

„Es hat sich so gefügt,“ sagte er mit einer gewissen Strenge, „daß Du durch diese Grundsätze gelitten hast.“

Sie nickte. „O,“ rief sie, „ich habe gelitten! Und nach Jahren, als mein Herz bitter und mein Sinn hart geworden, – es ist wahr, wir haben uns wiedergesehen, und jene armselige Ehe ist darüber fast zerbrochen. Aber – sie logen, sie logen Alle!“ Sie sprang auf und preßte zitternd ihre Hände gegeneinander. – „So!“ rief sie, „so, Rudolph, habe ich mein Herz gehalten.“

„Und doch,“ erwiderte er, „ich lebte damals viele Meilen von Deinem Wohnorte, und doch habe ich auch dort gehört, wie sie es sich gierig in die Ohren raunten, böse, böse Dinge ...“ Er verstummte plötzlich, als habe er zu viel gesagt.

Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an; eine Fluth von Thränen stürzte über ihr Gesicht. „Nein, Rudolph, nein – sie logen!“ sagte sie, indem sie leise und schmerzlich das Haupt bewegte. Dann warf sie sich in den Lehnstuhl und drückte beide Hände vor die Augen.

Der junge Mann war neben ihr auf’s Knie gesunken; sein Blick ruhte angstvoll auf ihren blassen Fingern, durch welche immer neue Thränen hervorquollen. Einmal erhob er die Hand, als wolle er die ihrigen herabziehen; aber er ließ sie wieder sinken. – Als sie ruhiger geworden, ließ sie einige Secunden ihre Augen auf dem jungen Antlitz ruhen, aus dem die Anbetung wie ein Opfer zu ihr emporstieg. Bald aber lehnte sie den Kopf zurück und starrte mit zusammengezogenen Brauen gegen die Zimmerdecke. „Geh jetzt, Rudolph!“ sagte sie leise.

Der junge Mann ergriff ihre Hand, die wie leblos in ihrem Schooße lag, und küßte sie. Dann stand er auf und ging.

Es war Dämmerung geworden; ein greller Abendschein leuchtete an der Wand; aber in den Ecken und am Kamin dunkelte es schon, und allmählich wuchs die Dämmerung. Die in dem tiefen Lehnsessel ruhende Frauengestalt war kaum noch erkennbar; dann fiel ein bleiches Mondlicht auf den Estrich. Draußen erhob sich

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_179.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)