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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 12.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Im Schloß.
Von Th. Storm.
(Schluß.)


Im September hatten wir, da unten eine Reparatur vorgenommen wurde, uns oben in dem großen Bildersaale eingerichtet. Es war an einem Sonntag-Vormittage. Am Abend sollte in der Stadt die Einweihung des neuerbauten Rathhauses mit festlichen Aufführungen und darauf folgendem Ball begangen werden.

Mein Vater, der guter Laune war, da das erhoffte Königsbild seit einigen Tagen nun wirklich in seinem Zimmer hing, hatte auf die Einladung der städtischen Behörde für uns Alle zugesagt. Die Oberforstmeisterin von dem uns zunächst belegenen Gute und eine bei ihr lebende Schwester, welche den nach meiner Rückkehr abgestatteten Besuch noch nicht erwidert hatten, wurden zu Tisch erwartet. Die Damen waren gleichfalls eingeladen und wollten am Abend gemeinschaftlich mit uns zur Stadt fahren.

Ich saß mit einer Handarbeit am Fenster. Arnold, mit dem ich zuvor gesungen hatte, stand noch im Gespräche neben mir. Er hatte mich eben auf den Abend um einen Tanz gebeten, als meine Tante mit den erwarteten Gästen in den Saal trat. Die Oberforstmeisterin war eine stattliche Dame in mittleren Jahren; ihre Augen waren beständig halbgeschlossen, als sei die Welt ihres vollen Blicks nicht werth, und ich dachte immer, ihr Fuß müsse jedes kleine Geschöpf auf ihrem Wege zertreten; so wenig sah sie, was unter ihr am Boden war. Aber die Fältchen um ihre Augen verschwanden, als sie auf mich zukam; sie küßte mich, sie war entzückt von der Frische meines Teints und dem Glanz meiner Augen; in ihrer matten Sprechweise überschüttete sie mich mit Zärtlichkeiten. Meine Tante hatte ihr Arnold’s Namen genannt, und sie hatte, während sie das Gespräch mit mir fortsetzte, seine Verbeugung leicht und höflich erwidert.

„Ist der junge Mann ein Verwandter des Herrn von Arnold auf Grünholz?“ fragte sie mich nach einiger Zeit.

Ich hatte nicht den Muth es zu verneinen, als ich in das hochmüthige Gesicht dieser Frau blickte. „Ich glaube kaum,“ sagte ich leise, „er hat uns nicht davon gesprochen.“

Aber er mußte meine Lüge gehört haben, denn schon war er näher getreten, und während ich seinen ernsten Blick auf meinen niedergeschlagenen Augen zu fühlen glaubte, hörte ich ihn sagen: „Ich heiße Arnold, gnädige Frau, und bin seit einigen Monaten der Lehrer des jungen Barons.“

Die Oberforstmeisterin ließ wie musternd ihre Augen über ihn hingleiten. „So?“ sagte sie trocken. „Der Kleine macht Ihnen gewiß recht große Freude!“ Dann wandte sie sich mit einem verbindlichen Lächeln zu meiner Tante und begann mit dieser ein Gespräch.

Arnold blickte ruhig über sie hin; es war ein Ausdruck der Verwunderung in seinen dunkeln Augen.

Bald darauf ging meine Tante mit den beiden Damen nach ihrem Zimmer. Ich blieb bei meiner Arbeit am Fenster sitzen; Arnold stand neben dem offenen Clavier. Keines von uns sprach; es war wie beklommene Luft im Zimmer. „Singen Sie noch etwas,“ sagte ich endlich, „ein Volkslied, oder was Sie wollen!“

Er setzte sich, ohne zu antworten, an’s Clavier, und nach ein paar leidenschaftlichen Accordenfolgen sang er in bekannter Volksweise:

„Als ich Dich kaum gesehn,
Mußt’ es mein Herz gestehn,
Ich könnt’ Dir nimmermehr
Vorübergehn.
Fällt nun der Sternenschein
Nachts in mein Kämmerlein,
Lieg’ ich und schlafe nicht,
Und denke Dein“

Die Melodie hatte ich oft gehört; aber der Text war ein anderer. Mir kam eine Ahnung, daß diese Worte mir galten; ich fühlte, wie seine Stimme bebte, als er weiter sang. Aber die Worte klangen süß, daß ich wie träumend die Arbeit ruhen ließ.

„Ist doch die Seele mein
So ganz geworden Dein,
Zittert in Deiner Hand,
Thu’ Ihr kein Leid!“

Er sang die Strophe nicht zu Ende, er war aufgesprungen und stand vor mir. „Fräulein Anna,“ sagte er, und in seiner Stimme klang noch die ganze Aufregung des Gesanges, „weshalb verleugneten Sie mich vor jener Frau?“

„Arnold!“ rief ich, „o bitte Arnold!“ denn die Worte hatten mich gerade in’s Herz getroffen.

Als ich aufblickte, fuhr ein Strahl von Stolz und Zorn aus seinen Augen. Ich konnte es nicht hindern, daß mir die Thränen über die Wangen liefen und auf meine Arbeit herabfielen. Er sah mich einen Augenblick schweigend an; dann aber verschwand der Ausdruck der Heftigkeit aus seinem Antlitz. „Weinen Sie nicht, Anna,“ sagte er, „es mag schwer zu überwinden sein, wenn Einem die Lüge schon als Angebinde in die Wiege gelegt ist.“

„Welche Lüge? Was meinen Sie, Herr Arnold?“

Seine Augen ruhten mit einem Ausdruck des Schmerzes auf mir. „Daß man mehr sei, als andere Menschen,“ sagte er langsam. „Wer wäre so viel, daß er nicht einmal auf Augenblicke dadurch herabgezogen würde!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_177.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2019)