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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Jetzt leitet auch die Platte den Ton, und auf den Ruf: „Lebt Ihr?“ dringt die Menschenstimme aus dem Grabe: „Alle vier und zwanzig.“ Leider verstand der wackere Bruchmeister „vierzehn“, und die Kunde, daß nur vierzehn lebten, lief daher von Munde zu Munde den Schacht empor und hinaus unter Weiber und Kinder, und den erschütterten Gemüthern war es gerade, als könnte Vater, Gatte, Bruder nicht unter den Lebenden sein.

Nicht lange sollte die Ungewißheit dauern. Da drunten dröhnte nun von außen und innen Stoß um Stoß, Schlag um Schlag. Das Blut quoll den wackern Rettern unter den Nageln vor. Sie arbeiteten, um schnell vorwärts zu kommen, einen so niedrigen Stollen aus, daß sie auf dem Bauche liegen mußten; Einer schob dem Andern das Losgerissene zu, daß sie sich fast selbst den Ausgang vermauert hätten.

Wer sollte denen da drinnen zuerst die Hand drücken?!

Jetzt nur einen Augenblick Pause, um Athem zu schöpfen! – Da frug Richter wieder: „Wie steht’s drinnen?“ „Wir sind alle 24 wohl und gesund!“ Da schreien die Leute vor Jubel auf, und der Schrei hallt von da hinaus und kündet ein Wunder, ein hohes Wunder Gottes! Eine Felsenlast von über zweimalhunderttausend Centnern stürzt über 24 Männer herab, begräbt sie 56 Stunden lang lebendig, und keinem wird ein Haar auf dem Scheitel gekrümmt! ! –

Und Weib und Kind hören’s und weinen fort und können’s nicht glauben und zweifeln noch immer.

Und drunten wieder Stoß auf Stoß, rechts und links – jetzt rollt Schutt und Sand und – eine Menschenhand faßt die andere – die sich in Liebe durch Felsen zu einander gearbeitet haben. „Hier sind sie!“ ruft der wackere Winkler, indem er des Verschütteten August Petters Hände faßt – dann herrscht einen Augenblick tiefes Schweigen in den Klüften – denn Retter und Gerettete weinen. – Doch im Nu ist die Bewegung, die die Thätigkeit lähmt, bemeistert. Die Oeffnung wird erweitert und Petters herausgezogen. „Seile herunter!“ ruft Richter, und eine Minute darauf kniet der erste Gerettete, zusammengebrochen, unter Gottes Himmel, den er nie wieder zu sehen gehofft hatte. Ihm folgte der alte Linke und so alle 24 dem Alter nach.

Die große versammelte Menschenmasse, welche die Halden, das Thal und die Nachbarhöhen bedeckte, und deren vorderste Reihen die Angehörigen der Verschütteten bildeten, hatte stumm zugeschaut, wenn einer nach dem andern aus dem Schacht emporgezogen auf der Höhe des Trümmerberges, den niemand besteigen durfte, erschien, und nur hie und da kündete ein heller Aufschrei: „Der Vater! der Bruder! der Sohn!“ daß Kind, Bruder, Mutter oder Vater den Lieben erkannt hatten. Aber als der letzte der 24 gesund und wohl emporgezogen war, da brach das Volk in nicht enden wollenden Jubel aus, und die braven Gensd’armen und Beamten, in deren Augen selbst Thränen glänzten, konnten es nicht hindern, daß der Strom sich nach dem Schuttberge hin ergoß und die von ihren Rettern, halb geführt und halb getragen, herabgeleiteten, matten, glücklichen Verunglückten im Triumphe nach dem breiten Strohlager führte, das in der Eile für sie bereitet war, und wo Aerzte, stärkende Weine und Nahrungsmittel ihrer harrten.

Aber sie aßen nicht und tranken nicht, weinend saßen sie mit gefalteten Händen im Kreise, weinend hingen die Ihrigen an ihnen, weinend umstand sie die erschütterte Menge – – Da hebt plötzlich eine Stimme aus derselben an, den schönen Choral zu singen: Nun danket alle Gott! und grade als habe jede Brust diesen Ausdruck für ihr Empfinden gesucht, lief der Klang auseinander, wie die Welle auf der Fläche des Teiches, Stimmen auf Stimmen gesellten sich hinzu, voller und voller hob sich der Ton zum Himmel, im Thal und auf den Höhen, am Ufer und auf den Halden, auf den Barken und jenseits des Stroms sangen die Menschen aus voller Seele mit. – – Es war ein Gottesdienst, wie ihn größer und schöner nie ein Dom umschloß. – Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, weiter zu schildern, wie die Geretteten sorgsam heim gebracht, verpflegt und gespeist wurden, wie wackere Beamte und ein würdiger Geistlicher den erschütternden Empfindungen, die in allen Herzen lebten, Worte zu leihen suchten, nicht Zweck dieses Aufsatzes, die Verdienste aufzuzählen, die sich Behörden, Gemeinden, der Besitzer des Steinbruchs, hohe und niedere Beamte und viele wackere Privatpersonen durch Eifer, Selbstverleugnung, Muth und Opfer aller Art um das Rettungswerk erwarben, es ist ferner nicht am Platze, auszuführen, wie weit die Mildthätigkeit der Bewohner Sachsens für die Verschüttetgewesenen die Hand öffnete, wie reich man zu Ehrengeschenken für die wackern Retter steuerte, – aber es ist heilige Pflicht für den Augenzeugen, davon Kunde zu geben, wie edel sich die innere Natur des Mannes der Arbeit bei diesem furchtbaren Ereignisse bewährte, mit welchem anspruchlosen Heldenmuthe schlichte Arbeiter fünfzig Stunden lang unablässig mit Todesgefahren rangen, bloß weil Nebenmenschen in Gefahr waren. Hier feuerte den Kämpfer kein Trompetengeschmetter, kein Schlachtgewühl, kein Blick auf Lohn und Ehre an; sie wußten nicht, wer für die Ihren sorgen würde, wenn sie in diesem Kampfe mit Elementargewalten unterliegen sollten; ja nicht einmal, wo sie das tägliche Brod hernehmen würden, während sie retteten – aber sie wußten, was sie als Menschen und Christen zu thun hatten, und – thaten es!

Bessere Kränze, als sie in ihrem schlichten Sinne ahnen mögen, ruhen auf ihren anspruchslosen, von schwerer Arbeit gebeugten Stirnen!




Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung.)

Die Flucht des Königs, die unheilvolle Rückkehr desselben und die Ereignisse, welche sich daran knüpften, hatten dem Grafen den Anlaß geboten, einen Plan auszuführen, dessen Gelingen ihm jetzt, nachdem er die Leidenschaft Ulrich’s für Veronika kennen lernen hatte, einen Ausweg aus der innern Bedrängniß zu zeigen schien, welche mehr und mehr auf ihn einzustürmen begann, denn keine seiner Empfindungen war eine reine und ungebrochene.

Bei aller seiner Leidenschaft für die Marquise, bei der willenlosen Hingebung, mit welcher er ihr Veronika geopfert hatte, und trotz des Zutrauens, welches ihre zur Schau getragene Begeisterung für die königliche Sache ihm einflößte, fehlte ihm jener rechte persönliche Glaube an Franziska, der sein Glück und seinen Frieden in den Händen eines geliebten Weibes wohl aufgehoben weiß. Es kamen doch immer wieder Stunden, in welchen er nicht vergessen konnte, was einst geschehen war, und in welchen er die ganze Stärke seiner Leidenschaft für sie heraufbeschwören mußte, um die Zweifel zu übertäuben, die sich in ihm gegen sie erhoben und ihn dann an sich selbst und an der Berechtigung seines ganzen Thuns irre werden ließen. Er machte sich dann das Unglück Veronika’s zum Vorwurf, er hätte sie lieben, Franziska vergessen mögen, und fand Beides unmöglich. Er konnte sich keine Zukunft für sich ohne Franziska vorstellen, und hatte nicht Härte genug, gleichgültig an das künftige Loos seiner Gattin zu denken, obschon er sich nicht scheute, sie unglücklich zu machen, da sie noch in seinem Hause und in seiner Nähe lebte.

Unentschlossene Menschen halten sich für frei und selbstständig, eben weil sie unentschlossen sind und sich also beständig in der Lage befinden, ihren Entschluß noch fassen zu können; und sie meinen eine Wahl aus innerer Ueberzeugung getroffen zu haben, wenn ein von außen kommender Anlaß sie zum Handeln antreibt. In solcher Lage war es, daß Graf Joseph seiner Schwester schrieb, auf dem Rottenbuel die Zimmer Veronika’s zu ihrem Empfange herrichten zu lassen. Die Zustände in Paris boten einem besorgten Manne Anlaß genug, an die Entfernung seiner Frau zu denken, und der Graf traute es sich zu, von Veronika, die wirklich leidend war, die Einwilligung zu einem Wechsel ihres Aufenthaltes zu erlangen. War sie erst fern von Paris, dann hoffte er Alles sowohl von ihrer Güte, als von ihrem Stolze. Er wußte, daß sie ihn liebte und ihn glücklich zu sehen wünschte, er kannte sie auch darauf, daß es ihr nicht möglich wäre, seine Gattin zu bleiben, wenn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_173.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)