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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

und Lage der Massen geleitet, bekletterte der Leiter der Arbeiten in den Fröde-Pieschelschen Brüchen, der wackere Bruchmeister Richter, trotz bröckelnden Gesteins und nachstürzenden Gerölls, mit fünf unerschrockenen Männern den Trümmerberg, um sich einen Plan für die Rettungsarbeiten zu bilden. Mit ängstlicher Spannung verfolgte das versammelte Volk den Weg der Braven, die bald auf Geröllhügeln auftauchten, bald zwischen riesigen Felsblöcken verschwanden. Plötzlich sah man sie, fast auf der höchsten Höhe des Trümmerbergs, Halt machen und einen von ihnen versinken. Fast unmittelbar an der Felswand hatte sich zwischen zwei gebrochenen, fast 16 Fus; dicken Steinbänken eine Kluft gezeigt, die weit in der Richtung, in der man die Verschütteten liegend wußte, hinabzuführen schien. In diese entsetzliche Kluft, kaum so breit, daß ein Mensch sich durchzwängen konnte, kroch ein junger Steinbrecher, Linke mit Namen, der Sohn des Alten drunten in der Gruft, trotz nachstürzenden Gesteins, trotzdem, daß die noch in Bewegung befindliche Masse jeden Augenblick ihn in der verengerten Kluft erdrücken konnte, hinein – drei Viertelstunden lang harrte man auf seine Rückkunft, ja gab ihn verloren – da tauchte er unter freudigem Zuruf wohlbehalten wieder auf; die Männer stiegen herab, und der Kampfplan war nun gemacht!

Auf drei Wegen wollten die Retter versuchen vorzudringen. Zunächst sollte, und davon hoffte man den schnellsten Erfolg, ein Stollen an der Felswand selbst hin, durch die Sturzmasse getrieben werten. Dieser mußte fast 40 Ellen lang sein, um bis zu den Verschütteten zu reichen. Eine zweite, kleinere, aber aus besonders muthigen, freiwilligen Leuten bestehende Abtheilung, wurde beordert, den Weg durch die hohlen Räume, der Sturzmasse von oben her zu verfolgen, auf dem Linke, wie er behauptete, bis auf 20 Ellen Distanz zu den Verschütteten niedergedrungen war. Eine dritte Abtheilung sollte endlich, von Westen her, versuchen, sich durch einen, anscheinend besonders lockergefallenen, Theil des Schuttkegels durchzuarbeiten. Letzterer Versuch wurde bald als zu weitaussehend aufgegeben.

Zeitig brach die tiefe Nacht ein. Unheimlich glühte im Licht der Fackeln und Kienkörbe, mit tiefen Schlagschatten, die Felswand und die gewaltige Grabpyramide in die dunkle Gegend hinaus. Der Regen goß in Strömen herab. Der Sturz neuer Schutt- und Steinmassen machte jede Annäherung an die Stelle, wo die Arbeiten beginnen sollten, lebensgefährlich.

Die Nacht wurde dazu verwendet, Schutz gegen dieses vernichtende Batteriefeuer von oben zu schaffen. Im nächsten Forste, gleichviel wem er gehörte, schlug man ein halbes Hundert Stämme, die, in mannsstarke Hölzer von 8–10 Ellen Länge getrennt, so, Stamm an Stamm, gegen die Felswand gelehnt wurden, daß sich ein fast bombenfestes schräges Dach bildete, das die herabstürzenden Gesteine weit von sich schleuderte und in dessen Schutz die Leute rüstig zur Stollenarbeit vorgehen konnten. Schwieriger war für die Wackern, die von oben in die Klüfte dringen sollten, ein Schirm gegen den Steinschlag zu schaffen, und ungenügender fiel er aus, da der Transport von wirklichen Stämmen auf die Höhe der so tief zerklüfteten Schuttmasse unmöglich war. Nur aus Stangen gelang es endlich, ein dürftiges Schild herzustellen, durch das hindurch sie oft genug mit Sand, Schlamm und Geröll überschüttet wurden.

Keiner der wackern Arbeiter wich, trotz Kälte und Nässe, vom Platze. Wärmende Getränke und Speisen langten von Schandau, Königstein, Pirna an, der Arbeitsplatz wurde zum ernsten Feldlager vor einer Schlacht. Und welcher Schlacht!! Keiner solchen, in der Fanatismus, Nationaleitelkeit, Völkerzwietracht oder Fürstenlaunen mit einander streiten und verblendete Kämpfer zusammenjagen, sondern einer Schlacht, wo Menschenliebe mit der todten Naturgewalt um das Leben des Nächsten ringt.

Welcher Kampf ist des Schweißes und Blutes der Edeln werther?!

Weit rings umher saßen, frostzitternd in sich gebeugt, die Angehörigen der Verschütteten, kleine Kinder schmiegten sich weinend an die Erwachsenen, die kraftlos waren wie sie.

Der Tag graute, der Ton der Frühglocken zitterte von Schandau herauf. Da begann die Thätigkeit aus allen Theilen. Heut war heiße Arbeit Sabbathfeier und das Keuchen der Anstrengung das Gott wohlgefälligste Gebet. Die Hoffnung, mit dem Stollen am Felsen hin zuerst ans Ziel zu kommen, erwies sich trügerisch. Das Geröll war zu mächtig und dabei zu lose.

Theilweise Auszimmerung ward nöthig, welche die Arbeit verzögerte. Nichts desto weniger kroch der Stollen, getrieben von Wackern, die weder das Zusammenrollen der Schuttmassen, noch den tückischen Fall der deckenden Felsstücke fürchteten, stündlich tiefer in’s Gestein.

Ueberraschend hingegen förderte sich die Arbeit von der Höhe herab in die Klüfte zwischen den gestürzten Bänken des Felsens. Hier arbeiteten sich fünf der allerwackersten und todesmuthigsten Steinbrecher in einem gewundenen, vielfach gebrochenen, dunkeln, engen Schachte in die Tiefe hinab. Was kümmerte es diese Tapfern, daß das Gestein um sie knirschte und sie in ihrer engen Kluft jeden Augenblick, weit furchtbarer als die da drunten, zu begraben drohte? Das Geröll wurde in Klüfte gestopft, die größeren losgearbeiteten Steinstücke von Hand zu Hand zu Tage hinausgereicht. Um das Aus- und Einfahren zu begünstigen, wurde eine Webe Segeltuch von einem Schiffsherrn im Thale geholt und in den schrägen Schacht gehängt, so daß die Leute, ohne Geröll mit fortzureißen, Hinabrutschen konnten. Gefährlich liegendes Gestein wurde mit Stempeln abgespreizt, hindernde Ecken wurden abgeschlagen; dennoch war der Schacht an vielen Stellen so eng, daß ein Mann sich kaum durchzwängen konnte.

Die Wackern, die in dieser Kluft, deren Befahrung schon eine That großen Muthes war, fast 50 Stunden lang, ohne Rast arbeiteten, waren der junge Linke, Hardig aus Postelwitz, Winkler, der Muthigste und Beste von Allen, und der treffliche Bruchmeister Richter, der, vom Stollen zum Schacht und vom Schacht zum Stollen eilend, auch immer ein Wort des Trostes für die armen Weiber und Kinder draußen, hatte.

Schon will, von fast zwanzigstündiger Anspannung der Kräfte, der Muth sinken, die Schläge werben matter, die Aufgabe bewältigt die Leute – da quillt es zwischen den Geklüftspalten bläulich empor – es ist Rauch aus dem Innern der Schuttmasse – Nicht Alle sind todt – sie haben Feuer – sie leben! – Diese Gewißheit haucht alle Müdigkeit weg und kühlt die brennenden Hände. Am Sonntag Nachmittag ist der Schacht volle 40 Ellen tief. Die rastlosen Vier da unten lassen in kurzer Pause die Flasche kreisen – da – tick – tick – tick – klingt es aus der Tiefe – Hammerschläge – sie arbeiten von unten!! – –

Die Freudenpost fliegt durch das ganze Thal, und nur die Angehörigen fragen doppelt bange: Wer lebt?


Drunten in der Gruft schlich die Nacht grabesstill. Träumen war so schlimm wie Wachen, und Wachen ein böser Traum. Sonntag Morgen! Die Uhr zeigt Kirchgangzeit – Glockengeläut – Ob man es je wieder hört? – Der alte Linke ruft: „Kinder, jetzt beten sie in der Kirche für uns, laßt uns mit beten!“ Und die zitternden, heisern Stimmen erheben sich im dunkeln Felsengrabe zu „Befiehl Du Deine Wege,“ und „Auf Dich, mein lieber Gott, ich traue,“ und verhallen zwar dumpf in der niedrigen Gruft, aber dringen durch Felsen und thurmhohes Gestein hinauf zu dem großen Gotte der Liebe, der die Berge aufbaut und versinken macht.

Und kaum ist der Gesang verhallt, als Petters, der mit dem Rücken am Felsen lehnt, aufspringt und ruft: „Kinder, still! still! hört! – „Es klang aus dem Berge heraus, als ob ein kleiner Gnom drin scharre. – Der erste Ton der Außenwelt - Gott sei gelobt! da ist die Hoffnung!“ Und wieder sangen sie und hatten schon klingendere Stimmen. Mit der Hoffnung aber kehrt auch die volle Empfindung der Entbehrung zurück. Man versucht ein Feuerchen anzumachen, der Rauch zieht emsig durch die Spalten ab und kündet oben das Leben. Kaffee wird gekocht und zunächst dem einen von Schreck, Weinen und Kälte halb todten Knaben eingeflößt, der in einem Winkel auf Stroh liegt – dann feuchten sich die Männer die Lippen an und essen einen Mundvoll Brod. – Dann und wann halten sie den Athem an, um das leise Nagen zu hören, das da stets zu ihnen herabflüstert. – Wie ringt nun Hoffnung und Angst miteinander! – „Werden wir aushalten, bis sie zu uns durchdringen? Sind sie auf dem rechten Wege? Gott wird sie leiten!“ Und Er that es. – Von Stunde zu Stunde wird das Nagen lauter, bald klingt es dumpf, wenn die Arbeit am Geröll wühlt, bald hell, wenn sie feste Bänke durchbricht. Mit dem Ohr am Boden, an den Wänden, an der Decke der Höhle lauschen die Männer der himmlischen Musik der Arbeit, die so oft ihre Pein und Plage war. Immer bestimmter wird die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_171.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)