Seite:Die Gartenlaube (1862) 163.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Aber,“ fuhr er zu dieser fort, „Ihr wißt es wohl, dem Schulzen ist es schon eine Freude, daß Ihr noch da seid, und daß er und die Kinder Euch noch sehen, wenn sie von der Arbeit heimkommnen.“

„Freilich, Hinrich, freilich,“ erwiderte die Alte, „aber es erträgt Einer doch nicht allezeit, daß der Andere so überzählig nebenhergeht.“ – Sie hatte währenddeß zu dem Antlitz, ihres Enkels emporgeblickt. „Du siehst mir schwach aus, Hinrich,“ sagte sie, „das kommt von all dem Bücherlesen. – Er hätte es besser haben können,“ fuhr sie dann zu uns gewendet fort, „denn sein Vater war doch der Aelteste zum Hof, und er war wieder der Aelteste. Aber der Vater wurde studirt, da muß nun auch der Sohn bei fremden Leuten herum sein Brod verdienen.“

Der Oheim sandte ihr einen beobachtenden Blick nach, als sie bei diesen Worten aus der Thür ging. Bald aber kam sie mit einigen Gläsern Buttermilch zurück, die Arnold für uns erbeten hatte.

In der Stube, die nicht zum täglichen Gebrauch bestimmt schien, stand eine Reihe sehr großer Tragkisten an den Wänden, grün oder roth gestrichen mit blankem Messingbeschlag, die eine auch mit leidlicher Blumenmalerei versehen, so daß fast nur auf der unter dem Fenster hinlaufenden Bank sich Platz zum Sitzen fand. Ich wollte der Alten eine Güte thun. „Ihr seid hier schön eingerichtet, mit all den saubern Kisten!“ sagte ich.

Sie sah mich forschend an. „Meinen Sie das?“ erwiderte sie, „ich dächte, ein paar eichene Schränke, daneben noch ein Stuhl oder ein Kanapee Platz hätte, wäre doch wohl besser; aber es ist einmal die Mode so.“

Arnold und der Oheim lächelten über meinen verunglückten Versuch, mich angenehm zu machen. Die Alte war nach der Thür gegangen, um von einem über derselben befindlichen Bretchen einen Apfel für meinen Bruder herabzuholen. Da sie nicht hinauf langen konnte, trug ich rasch einen Stuhl herbei, stieg hinauf und reichte ihr den Apfel; zugleich erfreut, dadurch eine Verlegenheit zu verbergen, die ich nicht zu unterdrücken vermochte. Sie ließ mich ruhig gewähren. „Ja,“ sagte sie, während sie dem kleinen Kuno den Apfel in die Hand drückte, „das hat jüngere Beine, da kann man nicht mehr mit.“ Als ich aber bald darauf die strengen Augen der alten Bäuerin mit dem Ausdruck einer milden Freundlichkeit auf mich gerichtet sah, war mir unwillkürlich, als habe ich etwas gewonnen, das ebenso werthvoll als schwer erreichbar sei.

Bald darauf verließen wir die Stube und besahen die Einrichtung des Gebäudes, vorab den große Sauberkeit und Frische athmenden Milchkeller; wie Arnold sagte, das eigentliche Staatszimmer unserer Bauern. Dann, während die Alte bei dem künftigen Hoferben zurückblieb, traten wir aus dem Eingangsthor in’s Freie, unter den Schatten der alten vollbelaubten Eichen. „Ihre Großmutter ist eine Frau von wenig Complimenten,“ sagte der Oheim im Gehen, „aber man weiß nun doch, wo Sie zu Hause sind.“

Arnold lächelte. Er schien mit der Art des alten Herrn schon vertraut zu sein.

Dicht neben dem Hauptgebäude lag das jetzt leerstehende Abnahme-Häuschen. Auf einer Wiese dahinter befanden sich die Reste eines im Viereck gezogenen lebendigen Zaunes, welche die Neugierde meines Bruders erregten. Auch ein paar Pfähle standen noch in den Büschen, zwischen denen einst ein Pförtchen den Eingang in den kleinen Raum verschlossen haben mochte. „Es ist ein Bienenhof,“ sagte Arnold, „den mein Vater als Knabe vor vielen Jahren angelegt hat. Als sein Bruder später das Gut erhielt, hatte er weder Zeit noch Lust, den Betrieb des jungen Bienenvaters fortzusetzen , aber er ließ den Zaun zu seinem Angedenken stehen, und mir zu Liebe hat es auch der Schulze so gelassen.“

Vor uns lag, so weit das Auge reichte, eine ausgedehnte Wiesenfläche, hier und da durch lebendige Hecken oder einzelne Baumgruppen unterbrochen. Arnold wies mit der Hand hinaus und sagte: „Hier ist es mir seltsam ergangen. Als zwölfjähriger Knabe, da ich in den Sommerferien bei dem Oheim auf Besuch war, wanderte ich eines Morgens mit meinem einige Jahre älteren Vetter, dem jetzigen Schulzen, da hinab in die Wiesen. Wir gingen immer gerade aus, mitunter durch ein Gebüsch brechend, das unsern Weg durchschnitt. Ich blies dabei auf einer Pfeife, die mir mein Vetter aus Kälberrohr geschnitten hatte; auch ist mir noch wohl erinnerlich, wie an einigen Stellen das Auftreten auf dem sumpfigen mit weißen Blumen überwachsenen Boden mir ein heimliches Grauen erregte. Nach einer Viertelstunde etwa kamen wir in einen dichten Laubwald, und nach der Sommerhitze draußen umfing uns nun eine plötzliche Schattenkühle; denn der Sonnenschein spielte nur sparsam durch die Blätter. Mein Vetter war bald weit voran; ich vermochte nicht so schnell fortzukommen, wegen des Unterholzes, das überall umherstand. Mitunter hörte ich ihn meinen Namen rufen, und ich antwortete ihm dann auf meiner Pfeife. Endlich trat ich aus dem Gebüsch in eine kleine sonnige Lichtung. Ich blieb unwillkürlich stehen; mich überkam ein Gefühl unendlicher Einsamkeit. Es war so seltsam still hier; ein paar Schmetterlinge gaukelten lautlos über einer Blume, der Sonnenschein lag schimmernd auf den Blättern, und ein schwerer würziger Duft schien wie eingefangen in dem abgeschiedenen Raume. In der Mitte desselben auf einem bemoosten Baumstumpf saß eine glänzend grüne Eidechse und sah mich wie verzaubert mit ihren goldenen Augen an. – – Ich weiß dies Alles genau; ich weiß bestimmt, daß wir vom Bienenhof hier in grader Richtung über die Wiesen fortgegangen sind. Und doch lacht der Schulze mich aus, wenn ich ihn jetzt daran erinnere; denn dort hinunter liegt kein Wald, und hat auch seit Menschengedenken keiner mehr gelegen. – Wo aber bin ich damals denn gewesen?“

„Vielleicht dort nach der andern Seite hin,“ sagte mein Oheim.

„Dann hätte der Weg nicht über die Wiesen führen können.“

„Hm, eine grüne Eidechse? Ich habe hier herum so eine noch nicht gefunden. – Wissen Sie, Herr Arnold, es ist doch gut, daß Sie nicht der Schulze hier geworden sind. Sie sind ja ein Phantast, trotz der Anna da mit ihren alten Bildern.“

Ich weiß nicht, weshalb wir beide roth wurden, als der Oheim uns bei diesen Worten Eines nach dem Andern ansah; aber ich bemerkte noch, wie Arnold mit jener leichten Bewegung den Kopf schüttelte und wie zur Abwehr das Haar mit der Hand zurückstrich.

Auf dem Heimwege, den wir bald darauf antraten, wurde wenig zwischen uns gesprochen. Der kleine Kuno saß bald schlafend in meinem Arm; mir war still und friedlich zu Sinne. Als wir zu Hause anlangten, lagen schon die bräunlichen Tinten des Abends am Horizont, und einzelne Sterne drangen durch den Himmel.


Der Sommer ging auf die Neige, während das Leben im Schlosse seinen ruhigen, einförmigen Verlauf nahm. Arnold und sein kleiner Schüler schienen immer mehr Gefallen an einander zu finden; denn der Knabe lernte leicht und willig, wenn die Unterrichtsstunden auch mitunter durch seine Kränklichkeit unterbrochen wurden. Auffallend schwer wurde ihm dagegen das Auswendiglernen alter Kirchenlieder, von denen er an jedem Sonntagmorgen einige Verse vor dem Vater in dessen Zimmer aufsagen mußte. – Eines Vormittags wollte ich, um ihn zu ermuthigen, das ihm aufgegebene Lied von Nikolai gleichfalls auswendig lernen. Ich war in den Rittersaal hinaufgegangen; bald aber trat ich durch die offenstehende Thür in das Zimmer des Oheims, der, wie gewöhnlich um diese Zeit, im Lehnstuhl an seinem Tische saß. Er warf einen flüchtigen Blick zu mir hinüber und fuhr dann schweigend fort, die am vorhergehenden Tage gefangenen Insecten auf einer Korktafel auszuspannen. Ich ging mit meinem Buche im Zimmer auf und ab, erst leise und allmählich lauter die Worte des Gesanges vor mir hinmurmelnd. So kam ich an den dritten Vers:

„Geuß sehr tief in mein Herz hinein,
Du heller Jaspis und Rubin,
Die Flammen Deiner Liebe.“

Mein Onkel erhob plötzlich den Kopf und sah mich scharf durch seine großen Brillengläser an. „Tritt her!“ sagte er, „was lernst Du da?“ – Als ich Folge geleistet hatte, zeigte er mit dem Finger auf einen schwarzen Käfer, der mit aufgesperrten Kiefern an der Nadel steckte. „Weißt Du,“ fuhr er fort, „wie der carabus den Maikäfer frißt?“ – – Und nun begann er mit unerbittlicher Ausführlichkeit die grausame Weise darzulegen, womit dies gefräßige Insect sich von andern seines Gleichen nährt. – Ich hatte selbst so etwas in unserm Garten wohl gesehen; aber es hatte weitere Gedanken nicht in mir angeregt. Jetzt tauchte eine dunkle Ahnung in mir auf; meine Augen hingen regungslos an den Lippen des alten Mannes; es überfiel mich eine unbestimmte Furcht vor seinen Worten.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_163.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)