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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

umsonst über eine Aehnlichkeit nach. Während er die Fragen meines Vaters über seinen Aufenthalt in der Fremde beantwortete, strich er mitunter mit einer leichten Kopfbewegung das schlichte braune Haar an der Schläfe zurück, als wolle er dadurch ein tiefes inneres Sinnen mit Gewalt zurückdrängen. Nach Beendigung des Mittagsessens brachte mein Vater das Gespräch auf Musik und bat ihn, bisweilen meinem Gesange mit seinem Accompagnement zu Hülfe zu kommen.

Obgleich aber dies mit Bereitwilligkeit zugesagt wurde, so verflossen doch einige Wochen, ohne daß ich mich dieser Abrede erinnert hätte; überhaupt bekümmerte ich mich um den neuen Hausgenossen nicht weiter, als daß ich ihn zu Mittag und bei dem gemeinschaftlichen Abendthee in der herkömmlichen Weise begrüßte. Eines Nachmittags aber war mit einer jungen Dame aus der Stadt, mit der ich zuweilen zu singen pflegte, eine Sendung neuer Musikalien angelangt. Wir hatten ein Duett von Schumann hervorgesucht; aber die eigensinnige Begleitung ging über unsere Kräfte. „Wir wollen den Lehrer bitten,“ sagte ich und schickte den Diener nach dessen Zimmer.

Er kam nach einer Weile zurück: „Herr Arnold könne augenblicklich nicht, werde aber sobald wie möglich die Ehre haben.“ So mußten wir denn warten; ich sah nach der Uhr, eine Minute nach der andern verging, es war schon über eine Viertelstunde. Wir hatten uns eben wieder selbst daran gemacht, da ging die Thüre, und Arnold trat herein. „Ich bedauere, meine Damen, die Stunde des Kleinen war noch nicht zu Ende.“

Ich erwiderte hierauf nichts. – „Wollten Sie die Güte haben?“ sagte ich und zeigte auf das aufgeschlagene Notenblatt.

Er trat einen Schritt zurück. „Darf ich bitten, mich der Dame vorzustellen?“

„Herr Arnold!“ sagte ich leicht hin und ohne aufzublicken; ich nannte den Namen des jungen Mädchens nicht, ich wollte es nicht.

Er sah mich an. Ein überlegenes Lächeln glitt über sein Gesicht, und die leicht aufgeworfenen Lippen zuckten unmerklich. „Fangen wir an!“ sagte er dann, indem er sich auf das Tabouret setzte und mit Sicherheit die einleitenden Takte anschlug. Dann setzten wir ein; nicht eben geschickt, ich vielleicht am wenigsten; nur die Sicherheit des Klavierspielers hielt uns. Als wir aber bis etwa auf die Mitte des Stückes gekommen waren, hielt er inne. „Ancora!“ rief er, indem er mit der flachen Hand die Noten bedeckte; „aber jede Stimme einzeln! – Sie, mein Fräulein, – ich darf mir vielleicht Ihren Namen erbitten“

Die junge Dame nannte ihn.

„Wollen Sie den Anfang machen!“ – Und nun begann, bald auch mit mir, eine strenge Uebung; unerbittlich wurde jeder Einsatz und jede Figur wiederholt, wir sangen mit heißen Gesichtern, es war, als seien wir völlig in der Gewalt unseres jungen Meisters. Mitunter fiel er selbst mit seiner milden Baritonstimme ein, und allmählich trat das Musikstück auch in seinen einzelnen Thesen immer klarer hervor, bis wir es endlich unaufgehalten bis zu Ende sangen.

Als er sich lächelnd zu uns wandte, stand mein Vater hinter ihm, der unvermerkt herangetreten war. Das etwas abgespannte Gesicht des alten Herrn, der für Musik kein besonderes Interesse hatte, nahm sich zu der herkömmlichen Freundlichkeit zusammen. „Bravo, mein lieber Herr Arnold,“ sagte er, indem er den jungen Mann auf die Schulter klopfte, „Sie haben den Damen heiß gemacht; aber Sie sollten uns auch nun selbst noch etwas singen!“

Arnold, der noch die eine Hand auf den Tasten hatte, setzte sich wieder und begann eines jener italienischen Volkslieder, in denen die Klage um den Glanz der alten Zeit wie ein ruheloser Geist umgeht. Mein Vater blieb noch einige Augenblicke stehen; dann wandte er sich ab und ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab. Seine Gedanken waren längst bei andern Dingen, vielleicht bei dem Bildniß des Königs, das er durch Vermittelung eines einflußreichen Freundes als Geschenk der Majestät zu empfangen Hoffnung hatte. Statt seiner war der kleine Kuno mit seiner Krücke an’s Klavier geschlichen und lehnte sich schweigend an seinen Lehrer. Dieser legte unter dem Spielen den Arm um ihn und sang so das Lied zu Ende. – „Hörst Du das gern, mein Junge?“ fragte er, und als der Knabe nickte und mit zärtlichen Augen zu ihm aufsah, nahm er ihn auf den Schooß und sang halblaut, als solle es dem Kleinen ganz allein gehören, das liebe deutsche Lied: „So viel Stern’ am Himmel stehen!“

Aber ob mit oder ohne seinen Willen, auch für mich war es gesungen. Er sang es später noch oft für mich; denn unmerklich bildete sich seit diesem Tage ein freundlicher Verkehr zwischen uns. Es war aber nicht nur die Musik, die uns zusammenführte, der kleine Kuno hatte bald seine Liebe zwischen mir und seinem Lehrer getheilt und veranlaßte uns dadurch zu mannigfachem Beisammensein in und außerhalb des Hauses.


Eines Tages im Juli waren der Oheim, Arnold und ich mit dem Knaben in der Stadt, um uns nach einem Rollstühlchen für ihn umzuthun, denn das Gehen wurde ihm oftmals schwer. Da unser Geschäft bald besorgt war, so nahmen wir auf Arnold’s Vorschlag einen etwas weitern Rückweg, der am Saume eines schönen Buchenwaldes entlang führte. Hinter demselben in einem Dorfe ließen wir den Wagen halten und wandelten miteinander die Straße hinab zwischen den meist großen strohgedeckten Bauerhäusern. Nach einer Weile bog Arnold wie zufällig in einen Fußweg ein, welcher zwischen zwei mit Nußgebüsch und Brombeerranken bewachsenen Wällen entlang führte. Wir Andern folgten ihm; Kuno hatte seine Augen auf den Hummeln und Schmetterlingen, welche im Sonnenschein um die am Wege stehenden Disteln schwärmten. Es dauerte indeß nicht lange, so hörten zu beiden Seiten die Wälle auf, und vor uns in einer weiten Busch- und Wieseneinsamkeit lag ein stattlicher Bauerhof. Unter einer Gruppe dunkelgrüner Eichen erhob sich das Gebäude mit dem mächtigen fast bis zur Erde reichenden Strohdache, die braungetünchte Giebelseite uns entgegen, aus der die weißgestrichenen Fenster freundlich hervorleuchteten.

„In jenem Hause“, sagte Arnold, „bin ich als Knabe oft gewesen, und weil es mir hier wie fast nirgend in der Welt gefallen hat, so wünschte ich, daß auch Sie es einmal sähen.“

Der Oheim nickte. „Wer ist denn der Besitzer jenes schönen Gutes?“

„Es ist der Schutze Hinrich Arnold.“

„Hinrich Arnold?“

„Ja, der Bauer auf diesem Gute heißt allzeit Hinrich Arnold.“

„Aber,“ sagte ich jetzt, „heißen Sie denn nicht auch so?“

„Die ältesten Söhne aus dieser Familie tragen alle diesen Namen,“ erwiderte er, „auch bei dem Zweige derselben, der in die Stadt übergesiedelt ist. Der Vater des gegenwärtigen Besitzers war der Bruder des meinigen.“

Mittlerweile waren wir bei dem Hause angelangt; Durch das offenstehende Eingangsthor am andern Ende des Gebäudes führte uns Arnold auf die große, die ganze Länge desselben einnehmende Diele, an deren beiden Seiten sich die jetzt leerstehenden Stallungen für das Vieh befanden. Ein leichter Rauchgeruch empfing uns in dem dämmrigen Raume. Im Hintergrunde, wo vor den Thüren der Wohnzimmer sich die Diele erweiterte und durch niedrige Seitenfenster erhellt war, saß neben einem am Boden spielenden kleinen Knaben eine alte Frau in der gewöhnlichen Bauertracht von dunklem eigengemachtem Zeuge, das graue Haar unter die schwazseidne Kappe zurückgestrichen. Als wir näher getreten waren, stand sie langsam auf und musterte uns gelassen mit ein paar grauen Augen, die unter noch schwarzen Brauen kräftig aus dem gebräunten Gesicht hervorsahen. „Sieh, sieh, Hinrich!“ sagte sie nach einer Weile, indem sie unserm jungen Freunde die Hand schüttelte, scheinbar ohne uns Andern weiter zu beachten.

„Das ist meine Großmutter,“ sagte dieser, „da meine Eltern nicht mehr leben, meine nächste Blutsfreundin.“ Dann bedeutete er ihr, wer wir seien, und sie reichte nun auch uns der Reihe nach die Hand.

Während sie halb mitleidig, halb musternd auf die Krücke des kleinen Kuno blickte, fragte Arnold: „Ist denn der Schulze zu Haus, Großmutter?“

„Sie heuen unten auf den Wiesen“, erwiderte sie.

„Und Ihr,“ sagte mein Onkel, „wartet indessen vermuthlich den jüngsten Hinrich Arnold?“

„Das mag wohl sein,“ erwiderte sie, indem sie die Thür des einen Zimmers öffnete, „so ein abgenutzter alter Mensch muß sehen, wie er sein bischen Leben noch verdient.“

„Die Großmutter,“ sagte Arnold, als wir hineingetreten waren, „kann es nicht lassen, den Jüngeren behülflich zu sein. –

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