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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

trotz der genauesten Untersuchung des Kranken nicht im Stande, eine Krankheit mit Sicherheit zu erkennen, und dann quält er sich (wenn er nämlich ein menschliches und wissenschaftliches Interesse für den Kranken und überhaupt für seinen Beruf hat) nicht selten Tag und Nacht mit dem Gedanken an die unsichere Diagnose ab. Diese Qual kennen die unwissenschaftlichen Homöopathen bei ihrem Altweiberkrankenexamen freilich nicht, und deshalb konnte auch kürzlich ein homöopathischer Arzt, Herr Dr. Schüßler,[1] schreiben: „Also Herr Prof. Bock quält sich ab, wenn er Diagnosen macht. Le pauvre homme!! Habt Mitleid mit ihm. Ich hatte gedacht, ein Professor, ein Mann der Wissenschaft (für einen solchen will er doch gelten) brauche nicht grübelnd die Stirne zu runzeln, um mit Hülfe der diagnostischen Instrumente und gestützt auf physiologische und pathologische Kenntnisse eine Krankheit zu erkennen. Wie man sich doch täuschen kann!“

Den Naturheilungsproceß bei Krankheiten zu fördern, ist demnach die eine Aufgabe eines rationellen Arztes. Sodann theilt ihm die Wissenschaft aber auch noch eine andere zu und zwar die: Krankheiten von seinen Mitmenschen abzuhalten. Nur solche Aerzte, welche diese beiden Aufgaben erfüllen, wird es in der Zukunft, wenn die Menschheit mit Hülfe naturwissenschaftlichen Unterrichts vernünftiger denken gelernt hat, noch geben können. Wie aber die Naturheilungen zu unterstützen und Krankheiten zu verhüten sind, soll später besprochen werden.

Bock.





Der Bergsturz bei Schandau.

Von M. M. von Weber.

Fast verticale Felswände, auf deren Vorland und Kamm kräftiger, duftreicher Forst von kerzengeraden Tannen und hellgrünen Buchen und Birken sich emporstreckt, in deren kühlen, quellenreichen Schluchten, von keinem Windzuge berührt, das edle Farrnkraut seine tropischen Formen in üppiger Fülle aus tiefem Moose austreibt und Wald von zauberischem Grün seine sonndurchglitzerte Wölbung gegen einen schmalen Streifen blauen Himmels abschließt, begleiten links und rechts den mäandrischen Lauf der Elbe von Pirna bis zur böhmischen Grenze. Das tausendfache Echo dieser Felswände, an deren barocken, bald gnomenhaft hockenden, bald langgedehnt in die Luft strebenden Formen der Schall sich wunderlich bricht, leiht dem engen Stromthale eine wohllautvolle, nie ermüdende Stimme. Das tiefe, wandernde Sausen des Waldes mischt sich hier mit dem rauschenden Ruderschlage fernherkommender Dampfböte, dem weithinschallenden monotonen Rollen der Eisenbahnzüge, dem Murmeln des Stromes und dem Brausen der Mühlen in den Gründen zu einer melancholisch tönenden, aber beredten Sprache unendlichen Lebens. Zuweilen durchbricht dies ewige sonore Sausen und Murmeln der hellere Ton der fällenden Axt im Forst, der Anschlag der Hunde in den Gehöften, der Knall einer Büchse oder eine rufende Menschenstimme als lautere Accente in dieser ewigen Rede der Natur, ohne daß sich deshalb das Haupt des träge auf dem hinsiechenden Dampfboote ausgestreckten Reisenden erhöbe, oder der Ackersmann sein Gespann anhielte, um zu lauschen.

Aber dann und wann kracht, bei blauem Himmel, furchtbarer Donner durch das leise tönende Flußthal! Nicht groß und voll Majestät wie der des Himmels, sondern polternd, schütternd, mit tiefem Knirschen und Krachen gemischt, von dem die Erde bebt und unwillkürlich das Herz sich zusammenzieht. Dann fahren die Reisenden auf den Schiffen empor, die Wanderer stehen still, der Arbeitsmann richtet sich von seiner Arbeit auf; so weit man diesen Donner hört, stockt einen Augenblick jede Thätigkeit, und so manchen Mund hört man die Worte murmeln: „Gott geb’ es gnädig!“ –

Diejenigen aber, welche sich in jenem Augenblicke einer gewissen jener kahlen, grell beleuchteten Stellen der Felswände gegenüber befanden, die durch ihre harte, glänzende Farbe die Harmonie des Thalbildes so empfindlich stören und von denen aus sich gewaltige Sandhalden bis an den Strom strecken, sahen plötzlich den Wald auf dem Kamme der Felswand wanken, dann reihenweis die mächtigen Stämme, mit Felsblocken und Geröll und Schutt gemischt, in die Tiefe stürzen, und dann endlich die eben noch wie für die Ewigkeit gegründete, thurmhohe Felswand sich mit gähnenden Rissen bedecken, mit furchtbarem Donner in einzelne Blöcke auflösen und, Staubsäulen aufwirbelnd und wie ein Vulcan Gestein und Schutt weit umher schleudernd, in sich selbst zusammenbrechen. – –

Es ist dann in einem Steinbruche der sächsischen Schweiz „eine Wand“ gefallen. Seit den Jahrhunderten, in denen aus dem berühmten, schönen Steine, der „Pirnaischer Sandstein“ heißt, in Nähe und weiter Ferne Kirchen und Brücken, Paläste und Festungsmauern, Museen und Wohnhäuser gebaut worden sind, wird dieser Stein in unveränderter, unverbesserter, gefahrvoller Weise gewonnen.

In mehr oder minder mächtigen, fast ganz horizontal gelagerten Bänken, die unter einander so gut wie gar nicht verbunden sind, thürmt sich dieser Thonsandstein zu den Felsen der sächsischen Schweiz auf. In höchst unregelmäßiger Vertheilung durchfahren diese Bänke Verticalklüfte, die meist mehrere derselben mit scharfen. glatten Flächen durchschneiden. In der Steinbrechersprache heißen diese Klüfte „Lose,“ d. h. Stellen, wo der Stein selbst losbricht, wenn ihm seine Unterstützung genommen wird. Auf diese Formation des Sandsteins der sächsischen Schweiz gründet sich die Methode von dessen Gewinnung.

Man sucht eine Felsmasse guter, bauwürdiger Beschaffenheit aus, die durch „Lose“ von der Gesammtmasse genügend getrennt erscheint. Einen solchen Felsenkörper nennen die Steinbrecher „eine Wand.“ Man arbeitet die unterste Felsenbank desselben so lange und so tief heraus, bis die Masse sich in verticaler Richtung in den Losen, in horizontaler, vermöge des Durchbrechens der festen Bänke, vom Felsen trennt, das Uebergewicht nach vorn bekommt und, sich selbst in leichter behandelbare Stücke zertrümmernd, zusammenstürzt. Die so mit einem Male herabgeworfenen Massen variiren an Gewicht von zehntausend bis mehrere hunderttausend Centner.

Wie nahe der Augenblick des Ueberstürzens an den des Feststehens grenzt, wie schwer sich alle Einwirkungen von Nässe, Temperatur, wechselndem Anquellen und Zusammentrocknen des Erdreichs, der Wechsel der Cohäsion und Reibung des Gesteins, Angesichts so ungeheurer, unregelmäßiger Massen, deren Schwerpunkt nur ganz ungefähr zu taxiren ist, abschätzen lassen, liegt auf der Hand, und damit tritt auch das ganze, ungeheure Maß der Gefahr, das mit den letzten Arbeiten beim „Hohlmachen“, so heißt in der Steinbrechersprache das Unterminiren der Felswände, verknüpft ist, vor die Seele. Aber diese Gefahr wird noch wesentlich durch die Form, in der die Arbeit ausgeführt wird, vermehrt.

Meist wird, um Gestein, Material und Arbeitslohn zu sparen, die „Höhlung“, welche oft 20 und 30 Ellen tief, bei einer Breite von 30-100 Ellen, in den Felsen hineinreicht, so niedrig gemacht, daß der Arbeiter nur liegend arbeiten kann, indem er auf einem Strohkissen mir der linken Schulter ruht und nur kriechend die furchtbare, grabähnliche Kluft zu verlassen im Stande ist. An ein schnelles Entfliehen ist daher, wenn „die Wand“ Zeichen von Bewegung geben sollte, nicht zu denken.

Die ersten dieser Zeichen bestehen in dumpfen, kanonenschußähnlichen Knallen im Innern der Felsmasse, wodurch sich das Durchbrechen der Gesteinbänke zu erkennen giebt. Die Steinbrecher sagen, wenn diese schauerlichen Warnungssalven aus dem Innern des Gebirgs heraus erschallen: „die Wand schreit“. Stählerne Nerven gehören dazu, um es bei diesen Dröhnungen in der Nähe einer solchen Wand auszuhalten!

Meist aber dauert dies Knurren im Felsenstocke Tage und Wochen lang, ehe sich eine merkliche Bewegung der Wand zeigt. In Steinbrüchen, welche mit einiger Vorsicht betrieben werden,


  1. An Herrn Dr. Schüßler! Ich empfehle Ihnen angelegentlichst meine vierte Auflage der medicinischen Diagnostik zum eifrigen Studium, damit Sie nur wenigstens einmal einen Begriff von der Schwierigkeit des wissenschaftlichen Diagnosticirens bekommen.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_153.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)