Seite:Die Gartenlaube (1862) 113.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

No. 8.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)


Graf Rottenbuel an seine Schwester.
„Paris, den 26. Juni 1791. 

„Theure Conradine! gieb Ordre, daß man in Rottenbuel die Zimmer Veronika’s zu ihrem Empfange in Bereitschaft halte, denn ich stehe auf dem Punkte, meine Frau nach Hause zu schicken. Paris ist jetzt kein Aufenthalt für Frauen. Die letzten Tage haben es mir furchtbar klar gemacht, welchen Irrthum ich begangen, als ich Veronika’s Bitten nachgegeben und sie mit mir nach Frankreich genommen habe.

Der König hat am zwanzigsten mit seiner Familie einen Fluchtversuch gemacht, der nicht gelungen ist. Die Wuth des Volkes droht alle Schranken zu übersteigen. Nur durch ein Wunder entging der Marquis von Lafayette an dem Tage, an welchem man die Flucht des Königs in Paris erfuhr, dem Tode, als er zur Beruhigung des Volkes auf dem Greveplatz erschien.

Seit gestern, seit man den König, der sonst so jubelnd in Paris empfangen wurde, wie einen Missethäter auf Umwegen in die Hauptstadt zurückgebracht hat, herrscht ein Schweigen, das mir furchtbarer erscheint, als selbst das Tosen der Volkswuth. Eine doppelte Reihe von Nationalgarden, nicht wir, die Schweizerregimenter, mußten den Weg des Königs von den elyseischen Feldern nach den Tuilerien beschützen. Der König ist in den Händen des ihm feindlichen Volkes und darf sich kaum mehr seinen bisherigen Dienern und Vertheidigern anvertrauen, ohne die Volkswuth wach zu rufen. Kein glückwünschender Zuruf begrüßte den König, kein Hut wurde vor ihm abgenommen – die treuen Gardes du Corps, welche auf dem Wagen des Königs saßen, sind von dem Volke in das Gefängniß geführt. – Die Sache des Königs ist abgeurtheilt und verloren in Paris, und der Haß gegen das Königshaus und gegen seine Anhänger wächst mit jedem Tage.

Es erhebt mich, der Volkswuth mich entgegenzustellen, mich der Aristokratie auf das Engste anzuschließen und in ihren Rechten nicht nur die legitime Herrschaft in Frankreich, sondern auch unsere eigene Herrschaft in Bünden zu vertheidigen und aufrecht erhalten zu helfen. Das Königthum und die Aristokratie sind solidarisch unter einander verbunden durch die ganze Welt, und in der Verfassung von Graubünden, die dem Niedriggebornen ungebührlich viel Raum ließ, ist es mir nie wohl gewesen. Ist der Adel des Blutes ein Vorzug, was Du selbst nicht bestreiten kannst, so muß er nicht nur rein erhalten werden, sondern mit seinem angestammten Blute auch seine angestammten Rechte zu erhalten wissen, und so lange mein Blut in meinen Adern fließt, werde ich dies thun. Ich fühle mich wohl in der Aussicht des Kampfes, der uns hier sicherlich bevorsteht, aber ich mag Veronika, welche diese Ansichten nicht mit mir theilt, nicht in mein Schicksal verflechten, und Du hast Recht, meine Schwester, daß Du auch Deinen Sohn zurückrufst. Ulrich wird, ich hoffe es, Veronika begleiten, und Ihr werdet es vielleicht über Euch vermögen, einst die Rechte, die uns von unsern Vätern überkommen sind, mit dem Bauer und dem Bürger friedlich zu theilen. Ihr werdet es vielleicht erlernen, ehrbar bescheidene Bürger zu werden und es zu vergessen, daß Ihr Edelleute seid und welches Blut in Euren Adern fließt. Ich kann und werde das nicht.

Mein Platz ist hier unter denen, die meine Gesinnung theilen, die eines Herzens und eines Sinnes mit mir sind, so Mann wie Weib. Ich lebe und sterbe mit der Sache, die die meine ist – und die ich vertheidigen werde bis zum letzten Athemzuge, wenn schon der Sohn und der Erbe mir versagt ist, für den ich die Prärogative unseres Standes zu erhalten wünschte. – Es sind schwere Tage, Conradine, in denen wir leben, und es ist ein Schmerz für mich, daß meine Frau nicht empfindet wie ich, daß ich allein stehe in meinem Hause und in meiner Blutsverwandtschaft. Ich empfinde das tief und habe dem Schicksal zu danken, daß ich wenigstens meine alten Freunde hier unverändert wiedergefunden habe.“




Die Briefe, welche sich der Zeitfolge nach diesem Schreiben des Grafen Joseph anschließen mußten, fanden sich nicht vor, indeß die Mittheilungen, welche Jungfer Ursula von ihrer Mutter erhalten hatte[WS 1], ergänzten das Fehlende und hatten den Vorzug, im Zusammenhange darzubieten, was die Schreiber jener Briefe in denselben, als sie sie schrieben, noch zu verschweigen nothwendig gefunden hatten. Nur der Anfang eines Briefes von der Gräfin von Rottenbuel an ihre Schwägerin lag noch in der Sammlung, und er hatte offenbar eine schmerzliche Herzensergießung beginnen sollen, welche die Gräfin dann bereut und aufgegeben hatte. Sie klagte sich in den ersten Zeilen der Verblendung an, mit welcher sie sich dem Rathe ihrer erfahrenen und weisen Schwägerin widersetzt und in die Uebersiedelung nach Frankreich gewilligt hatte, und bekannte, daß jene Heiterkeit, in der sie der Freifrau von Thuris nach dem ersten Begegnen mit der Marquise von Vieillemarin geschrieben, ihr nicht natürlich gewesen sei, daß sie vielmehr gleich damals das Herz voll böser Ahnungen gehabt habe, die sie sich nicht eingestehen mögen, weil es ihr unwürdig gedäucht, an dem

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hatten
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_113.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2020)