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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

um den Schmerz, den das öftere Anstoßen an die Hindernisse im Wege ihm verursachte, vorübergehen zu lassen, und er tröstete sich nur damit, daß die Secessionisten-Truppe, sobald er seinen Weg durch den Wald zu nehmen hatte, noch schwierigeren Boden zu überwinden haben würde, als er selbst. Eine halbe Stunde mochte er mit möglichster Eile darauf los geschritten sein, und eine matte, sich über den trüben Himmel verbreitende Helle zeigte ihm den Anbruch des Morgens, als er plötzlich anhielt und seinen Körper rückwärts warf; ihm war es soeben gewesen, als habe er seinen nächsten Schritt in eine dunkele Tiefe hinab thun wollen, und er bedurfte einiger Secunden, um sich von dem schlagartigen Schrecken, der ihn ergriffen, zu erholen. Scharf blickte er vor sich, aber was sein Auge, das den Himmel gemustert, nicht sofort zu unterscheiden vermochte, das ließ ihn sein Ohr ahnen: tief unten vor seinen Füßen rauschte Wasser, bald entdeckte auch sein angestrengter Blick eine breite, dunkele Schlucht, und seine Hand berührte das obere Ende eines hinabgestürzten Balkens – die Secessionisten hatten die Brücke abgebrochen, um nach ihrem Angriff auf die Mühle jeder directen Verfolgung durch die Bewohner der Stadt vorzubeugen. Jetzt wußte auch Bill, warum sie den Umweg, die Eisenbahn hinab, genommen hatten, und einen Augenblick wollte die Verzweiflung ihre Krallen in sein Herz schlagen; der nächste Gedanke indessen schon brachte ihm hellen Trost. Er kannte den Bach, der hier unten floß, er wußte, daß er in geringer Entfernung im Walde einen Fall bildete und daß es dort leicht sein mußte, ihn zu überschreiten. Und mit dem Gedanken fühlte er auch seine volle Kraft wiederkehren; vorsichtig trat er von der Straße zwischen die Bäume hinein, dem Geräusche des Wassers folgend und sich bald mit den Händen an dem Gebüsche weiter fühlend, bald mit dem Fuße die Nähe der Schlucht erkundend – es war ein langsames, mühseliges Vorwärtskommen, und Bill meinte oft in der aufsteigenden Angst und Ungeduld vergehen zu müssen; lange währte es, bis das Geräusch des kleinen Wasserfalles zu seinen Ohren drang, und als er diesen endlich erreicht und oberhalb desselben das dämmernde Licht des anbrechenden Morgens sich in dem ruhigen Wasser wiederspiegeln sah, erkannte er erst, welchen Sprung es erforderte, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, ohne in den kleinen Strom, dessen Tiefe ihm fremd war, zu gerathen. Zu langem Besinnen hatte er indessen keine Zeit; er nahm auf jede Gefahr hin seinen Ansatz, spannte seine Muskeln zu voller Schnellkraft an und wenn er auch an dem schlüpferigen jenseitigen Boden ausglitt und in die Dunkelheit des Gesträuches stürzte, daß dieses wie mit Messern in sein Gesicht einschnitt, so war er doch trocken auf dem ersehnten Lande angelangt und eilte, kaum wieder recht zu sich selbst gekommen, durch Zweige und Gestrüppe sich arbeitend, nach der Straße zurück. Und jetzt schien er unempfindlich gegen alle Unebenheiten des Wegs geworden zu sein – er wußte, welche kostbare, unersetzliche Zeit er verloren; schon sandte der umwölkte Himmel die volle Morgenhelle hernieder, und in raschem Trabe eilte er vorwärts. In der Entfernung sah er bereits den Wald sich lichten – dort ging es zur Mühle hinab, und von da aus hatte er nur noch ein schmales Gehölz zu Passiren, um in Pleasant-Grove zu sein. Mehr und mehr begannen die Bäume von der Straße zurückzutreten, und der Knabe erwartete jeden Augenblick die Brandruinen der Mühle vor sich auftauchen zu sehen, als plötzlich, wie ein scharfes Prasseln, der Klang einer Anzahl von Schüssen an sein Ohr schlug, und kaum war er, wie von Schrecken an die Erde gebannt, stehen geblieben, als eine volle Salve dem ersten Gewehrfeuer folgte.

„Sie sind da, sie sind da!“ schrie Bill wie in Verzweiflung auf, seine Kniee drohten sichtlich unter ihm zu brechen; in der nächsten Minute indessen flog er wie ein gescheuchtes Reh dem Ausgangs des Waldes zu. Dort aber hielt er von Neuem an, und seine Augen blickten, wie im Entsetzen weit aufgerissen, in die Ferne. Links lag ein Haufen halb verkohlter, noch glimmender Balken, die frühere Mühle bezeichnend; rechts lief, eine leichte buschige Anhöhe hinab, der Weg nach der Stadt, und dort wälzten sich soeben schwarze schwere Rauchwolken empor, den Beginn einer Feuersbrunst anzeigend.

„O du Gott im Himmel!“ preßte es sich aus der Brust des Knaben, „und meine Mutter!“

Da zuckten die ersten spitzen Flammen durch den Qualm, und, als hätten sie nur andern Bahn brechen wollen, hoben sich an drei verschiedenen Orten gewaltige Feuersäulen ihnen nach; zugleich aber begann das Schießen von Neuem, bald wie Gliederfeuer, bald in rascher Aufeinanderfolge einzelner Schüsse; Schreien und Rufen klang vom Winde halb verweht herüber, und mit einem Aufschrei der Todesangst stürzte der Knabe die nach der Stadt hinabführende Straße vorwärts.

Aus den Gebüschen vor ihm trat schweißtriefend ein Mann in der gewöhnlichen Tracht der „kleinen“ Farmer, der beim Anblick des wie sinnlos heraneilenden Knaben seinen Schritt anhielt.

„Halt, Bill!“ rief er, als Jener, ohne nur von ihm Notiz zu nehmen, an ihm vorbeischießen wollte, und faßte kräftig des Burschen Arm, „hier läufst Du der Bande gerade in die Hände!“

„Laßt mich, laßt mich!“ erwiderte Bill angstvoll, als habe er die Worte kaum gehört, und versuchte sich eilig loszuwinden, „die untere Stadt brennt und meiner Mutter Haus mit!“

„Aber Du kannst nichts helfen, Junge, und wirst nur todtgeschlagen,“ gab der Mann zurück, „was sich hat retten können, ist nach der oberen Stadt geflüchtet, die scharf vertheidigt wird, und nun schießt die Mordbrennerbande nieder, was sich nur ihren Augen zeigt. Geh zurück oder komm mit mir, bis der Weg wieder frei wird!“

In des Knaben Gesicht begann sich ein Kampf zwischen Vernunft und Herzensangst zu spiegeln, bis er endlich wortlos und mit einem Ausdrucke unendlichen Jammers in das aufgehende Feuer hineinstarrte. Da klangen Schüsse in größerer Nähe als bisher, und von Neuem faßte der Mann Bill’s Arm. „Wir sind hier nicht sicher,“ rief Jener, den Burschen nach einem schmalen, abseits führenden Pfade ziehend; „warte wenigstens bei mir ab, wie die Sachen ausgehen, und dann thue, was Du willst!“ Und wie von aller Kraft verlassen, ließ sich Bill widerstandslos durch das Gebüsch führen, wo nach kurzem Gange ein rohes Blockhaus sich vor ihnen zeigte und das angstvolle Gesicht einer jungen Frau ihnen entgegenblickte. Bill hörte nichts von dem Wortaustausch der beiden Andern; kaum hatte er den innern Raum des Hauses betreten, als er wie gebrochen in einen Stuhl fiel und in ein krampfhaftes Weinen ausbrach; und je mehr der Mann Versuche machte, den Knaben durch Zureden zu beruhigen, je lauter schluchzte er, je stärker strömten seine Thränen – die Natur schien nach den übermäßigen Anspannungen der Nacht mit Gewalt ihr Recht zu fordern. Endlich rückte er zum Fenster, ließ den Kopf auf beiden untergestützten Ellbogen ruhen und horchte gespannt den sich bald nähernden, bald entfernenden Schüssen, nach kurzer Zeit aber vermochte er der wie Blei sich über ihn legenden Müdigkeit nicht mehr zu widerstehen und war eingeschlafen, ohne daß er es nur wußte. Sein letzter Gedanke, der wie ein Gespenst vor ihm stand, war, was aus seiner Mutter werden solle, wenn das Städtchen dem wilden Feinde zur Beute würde, und Fred Minner, selbst wenn er mit dem Leben davon käme, so arm würde, daß er mit sich allein schon übergenug zu thun haben werde.

Als er sich nach geraumer Zeit wieder aufgerüttelt fühlte, zog der Geruch von gebratenem Fleische dem Knaben in die Nase und weckte, trotzdem der erste Blick auf seine Umgebung ihm die letzte Vergangenheit klar vor die Seele rief, den Appetit der Jugend in voller Schärfe in ihm.

„Es ist Mittag, Bill, und Du hast noch kein Frühstück im Leibe,“ sagte der Farmer gutmüthig, „iß mit uns und dann thue, was Du willst; der Regen scheint den Mordbrennern das Pulver naß gemacht zu haben, und ich denke, Du hast jetzt freien Weg!“

Bill’s Auge flog unwillkürlich durch das Fenster in’s Freie, wo der Wind die Bäume bog, während die noch triefenden Scheiben einen kaum beendigten Regenguß andeuteten. Dann horchte er auf, aber das Schießen war verstummt, und nur das Sausen des Windes drang zu seinen Ohren. „Ich esse etwas, damit ich wieder Kraft bekomme,“ sagte er, dem Manne nach dem mit derber Kost besetzten Tische folgend, wo bereits die Frau ihrer harrte, „ich werde sie vielleicht heute noch brauchen!“ Und damit begann er schweigend und eifrig zuzulangen; kaum mochte er aber seinen Hunger gestillt haben, als er sich wieder erhob und seinem Wirthe die Hand reichte. Er fragte nach nichts, als scheue er sich vor jeder neuen Mittheilung, er nickte den Farmerleuten dankend zu und schritt dann hastig in’s Freie hinaus, durch die nassen Büsche den Rückweg nach der Straße suchend.

Starr die Augen vor sich gerichtet, eilte er der Stadt entgegen; der Wind umtoste ihn, aber er schien es kaum zu fühlen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_099.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)