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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

wühlt sie sich heraus und zerreißt das arme Kleidungsstück in hundert Fetzen. Der Hirt aber, nicht faul, fand es nicht gerathen, zu warten, bis die Bestie mit dieser Verrichtung zu Ende war; er machte es wie ein bekannter Held des alten Testaments, ließ seinen Mantel im Stich, schwang sich auf’s Roß und galoppirte in leicht begreiflicher Hast davon.

Es mag zwar, trotz des Gesagten, wahr sein, was die Naturforscher von unseren Bären, deren es bei uns drei Arten giebt – den großen schwarzen, den großen grauen und den kleinen braunen, nebst einer weißen, aber äußerst selten vorkommenden Spielart – behaupten, daß sie nämlich, im Ganzen genommen, ein so ziemlich gutmüthiges Vieh seien. Zu trauen aber ist den Burschen, die trotz ihrer gerühmten geraden, ehrlichen Manier, den Feind von vorne anzugreifen, denn doch den Nebel vortrefflich zu benutzen wissen, um einem fetten Rinde mitten in der Heerde auf’s Kreuz zu springen, nie so ganz, und wir gestehen, daß wir die hübsche Geschichte von dem Bären, der einem Erdbeeren suchenden Mädchen die süßen Früchte aus dem Körbchen naschte und sich dann forttrollte, ohne dem Kinde das Mindeste zu Leide zu thun, extra für Leute geschrieben erachten, die das Unglaubliche im Glauben zu leisten vermögen.

Die grausenerregende Unglücksgeschichte von dem englischen Capitain Lork, der vor ungefähr einem Jahre bei Nacht auf eine noch jetzt nicht aufgeklärte Weise in den Bärenzwinger zu Bern hinuntergerieth und da ein wahrhaft entsetzliches Ende fand, hat bewiesen, daß der Bär auch im wohlgefütterten und zudem halbzahmen Zustande eben immer ein gefährliches Raubthier ist, das diesen Charakter nur selten verleugnen wird. Es ist zwar richtig, daß der gewaltige männliche Bär im Zwinger eine gute Weile wartete, bevor er zum Angriff schritt, aber das Ende war darum nur um so fürchterlicher. Selbst der gezähmte Bär, der auf den Jahrmärkten herum mit seinen Tanzkünsten das Publicum ergötzen muß – ein Schicksal, das doch ganz geeignet sein sollte, den armen Petz vollkommen zahm zu machen, behält noch immer einen Rest der alten Tücke bei. Das hat jener Emmenthaler Bursche erfahren, der, zu einem der erwähnten Marktauftritte kommend, sich’s in den Kopf setzte, mit dem tanzenden Bären es im „Schwingen“ probiren zu wollen. Der Emmenthaler war nämlich einer jener nervigen, riesigstarken Ringkämpfer, die alljährlich an dem großen nationalen Schwingfeste zu Bern Theil nehmen, bei welcher Gelegenheit die berühmtesten Schwinger des ganzen Landes sich gegenseitig öffentlich zu messen pflegen. Der übermüthige junge Geselle, der schon so manchen wackern Gegner geworfen hatte, meinte in seiner Weinlaune, er werde es mit eben so guter Aussicht auf Sieg und Erfolg mit einem so elenden Bären wagen dürfen. Der Bärenführer machte zwar ein sehr bedenkliches Gesicht zu dem gefährlichen Unterfangen, gab jedoch am Ende seine Einwilligung, als der Kampflustige ihm ein Fünffrankenstück übergab, mit dem Bemerken, es behalten zu dürfen, falls sein Bär Sieger bleibe.

Jetzt ging’s unter gewaltigem Zusammenlauf des Marktpublicums los. Der Bär hatte zwar die üblichen kurzen Hosen nicht an, bei deren Gürtel und am Kniesaum sich die Schwinger beim Kampfe zu fassen pflegen; das genirte aber den Sohn des Gebirges wenig, das langhaarige Fell des Burschen that ja denselben Dienst und wurde auch sofort rüstig gepackt. Der Bär, der eben nicht recht begreifen mochte, um was es sich handle, brummte zwar ein wenig, fand aber keine rechte Zeit zum Widerstande. Der Schwinger wirbelte ihn fast gleich beim ersten Anpacken wie eine Feder in die Luft und schmiß ihn in sausendem Schwunge so mächtig und kunstgerecht auf den Rücken, daß dem guten Petz fast Hören und Sehen vergehen mochten.

Petz hätte nun freilich als guterzogener und regelrechter Schwinger sich fein ordentlich besiegt geben und seinen Gegner, den er im Fallen mit zu Boden gerissen, säuberlich loslassen sollen. Er verstand jedoch die Sache anders und schlang unter wüthendem Gebrumme die gewaltigen Pranken um den sehnigen Körper seines Besiegers, dem ob dieser illoyalen Umarmung bald der Athem zu entfliehen drohte. Der über seine Niederlage äußerst erbitterte Bär war nur durch die schlagenden Gründe seines Herrn zu bewegen, den fast erstickten Gegner loszulassen, der nachher sich ausdrückte, es komme ihm vor, als wären alle seine Rippen in einem Schraubstock zerknackt worden. Hätte der Bär nicht einen Maulkorb angehabt, so hätte es auch leicht zum Knacken kommen dürfen.

Uns ist nur ein einziger verbürgter Fall bekannt, daß ein Bär sich wirklich dankbar und nobel benommen hätte. Er ist jedenfalls launig genug, um ihn unsern Lesern zum Schlusse zu erzählen. Der vor einigen Jahren verstorbene langjährige Wärter des Bärenzwingers in Bern, ein hochbetagter Greis, hatte eines Morgens seinen lieben Mutzen, für die er eine wahre Anhänglichkeit hegte, und mit denen er auf möglichst vertrautem Fuße stand, das Futter in den hinter dem Zwinger angebrachten Stall gebracht, während die Bären draußen im Zwinger herum spazierten. Natürlich vermittelte sich der vertrauliche Verkehr zwischen dem sogenannten Bärenvater und seinen zottigen Pflegebefohlenen nur durch das schwere eiserne Fallgitter, das den Stall vom Zwinger trennte. Der Wärter hatte eben seinem Liebling, dem mächtig großen männlichen Bären, seinen Lieblingsleckerbissen, gelbe Rüben, zwischen den Gitterstäben durchgeschoben und sich dafür von dem dankbaren Thiere die Fingerspitzen belecken lassen, ein Spiel, das der Verfasser dieser Zeilen den guten alten Mann noch oft selbst hat treiben sehen. Hatte er das gethan, so pflegte er durch den Stall seinen Rückzug zu nehmen, von wo aus eine Thür auf die Treppe ging, die in seine Behausung hinauf führte. Hatte er diese Thüre hinter sich, so zog er dann mittelst einer da angebrachten, mit dem Zwingergitter in Verbindung stehenden Schnur das letztere wieder empor, um die Bären in den Stall zu lassen. Das that er denn auch diesesmal und wanderte ruhig weiter. Oben auf der Treppe angekommen, fiel’s ihm plötzlich ein, daß er vergessen habe, den Riegel der Thür hinter sich vorzuschieben, und daß diese daher bloß angelehnt sei.

Erschrocken wandte der alte schwerhörige Mann sich um, um eilig das Versäumte nachzuholen. – Es war schon zu spät – keine zwei Schritte von ihm wandelte der männliche Bär, mit seiner riesigen Gestalt fast das enge Treppenhaus ausfüllend, gravitätisch, aber ohne Zeichen von böslichen Absichten, daher; aber dicht hinter ihm folgte das Weibchen mit zornigem, dem Wärter alle Nerven durchschütterndem Brummen. In diesem fürchterlich kritischen Momente fiel dem vor Alter schon fast kindischen Greise ein seltsames Auskunftsmittel bei, um den gefährlichen Nachbar zum Rückzuge zu bewegen. Er schaute das Thier mit vorwurfsvollen Blicken an und hielt ihm im eindringlichsten Tone alle die vielen Wohlthaten vor, die er ihm während seines langen Aufenthalts im Zwinger erwiesen, zählte die vielen „Rübli“ auf, die er ihm gespendet, und endete mit den freilich selbst für ein Bärenherz rührenden Worten: „Lueg, Mani, du bist d’r undankbarst Bursch vo der Welt, wenn d’ di jetzt nit abemachst!“

Und richtig, der Mani, wie der gewaltige Bär von der bernischen Bevölkerung genannt wurde, wurde von dem moralischen Gewichte dieser Gründe überwältigt und machte langsam und gravitätisch „kehrt“. Das Weibchen aber war nicht so leicht zu rühren und suchte zähnefletschend neben dem weichherzigen Gemahl vorbei und an den Bärenwärter zu kommen. Der gestrenge nun auf seine Oberherrlichkeit eifersüchtige „Mani“ vermerkte das jedoch sehr übel und schlug seine Frau mit einem einzigen wuchtigen Hiebe seiner gewaltigen Pranke so effectreich hinter die Ohren, daß sie, wie aus einer Bombe geschossen, die Treppe hinünterflog und in den Stall zurückkollerte, wohin er ihr auch sofort nachfolgte und es ruhig geschehen ließ, daß der an allen Gliedern zitternde Wärter die Thür hinter ihm festriegelte. Der alte Wärter büßte mit schwerer Krankheit seine Unvorsichtigkeit.

Auch bei dieser Gelegenheit hat sich die von den Naturforschern gemachte Beobachtung bestätigt, daß die weiblichen Bären viel grimmigeren und gefährlicheren Naturells seien, als die männlichen. Es wird Leute geben, die wegen dieser Thatsache kaum erstaunen werden. Der noble „Mani,“ der bei dieser Geschichte eine so schöne Rolle spielte, befindet sich gegenwärtig ausgestopft im Museum der Naturgeschichte zu Bern, wo er noch jetzt durch seine riesige Größe und gewaltigen Formen die Bewunderung der Beschauer erregt.

A. Bitter.



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