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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Antwort schuldig geblieben, denn ich weiß mir selber noch keine Antwort auf die Fragen zu geben, die sich in mir regen. Mein Sinn wird unwillkürlich von einer Sehnsucht, die ich mir nicht eingestehen mag, in die weite glänzende Ferne zurückgezogen, obschon meine jetzige Umgebung mich anzieht und meine Theilnahme gewinnt. Ich habe den rechten Halt verloren; und ich bildete mir doch ein, ein Mann zu sein! –

Den 4. September. Meine Schwester sendete mir gestern den Brief, den sie von ihrem Sohne erhalten. Was soll er mir? was konnte er mir bringen, das ich nicht wußte, nicht erwartet hatte, als der Prinz mir schrieb? –

Es war ja lange Franziska’s Plan gewesen, und sie hat ihren Weg mit meisterhafter Sicherheit verfolgt. Was kümmert es sie, daß sie mein Leben vergiftet? daß sie mich um Glück und Hoffnung betrogen? daß ich den Jüngling jetzt beweinen und beneiden könnte, der durch meine Hand ihrer schrankenlosen Eitelkeit zum Opfer fiel? – Und doch wollte ich, Ulrich hätte geschwiegen. Es thut mir weh, daß Conradine sie verachtet. Es brennt mir in der Seele, daß ich nicht Verehrung fordern darf für das Weib, welches ich mit nicht zu besiegender Leidenschaft geliebt, für das Weib, das ich verdamme[WS 1] und das ich nicht vergessen, nicht verschmerzen kann.

Schloß Thuris, den 14. September. Welch ein Weg, welche Nacht war das! – Conradine hat Recht, dies Land, dies Leben müssen auch der Weiber Herzen stählen!

Wir waren vorgestern hier von Thuris aus nach Schloß Gunta geritten, den Wahlschmaus zu begehen. Das Schloß, seine Höfe, seine Gärten waren voll Menschen. In der großen Halle, auf dem Hofe waren die mit Speisen und Getränken überfüllten Tische aufgestellt. Die Menschen waren meilenweit herbeigekommen, es war wie bei einer Kirchweih, das Begrüßen, das Besprechen, die Freude, die Vivats und das Schießen fanden kein Ende, bis man zum Tanze ging.

Man tanzte in der großen Hausflur des Nebengebäudes, denn nur das Volk begehrte den Tanz. Die Musikanten, welche an dem Wahltage ihre Künste geübt, spielten auf, ein paar an die Mauer befestigte Lampen, in denen große Unschlittklumpen den Docht tränkten, machten die Beleuchtung. Man begann mit dem alten romanischen Nationaltanze, mit der Scarpetta, und der Landammann hatte darein gewilligt, auch Veronika an dem Tanze theilnehmen zu lassen. In zwei langen Reihen stellten die Burschen sich wie zu einer Ecossaise auf, Veronika wieder in der Landestracht an der Jungfrauen Spitze. Als die Tänzer sich geordnet hatten, verstummte die Musik, man tanzte nach Gesang. In langen, gezogenen Tönen sangen die Männer im Chor: Chi t’a fait quella scarpetta, chi te va tan bein? (Wer hat Dir die Schuhe gemacht, die Dir so wohl anstehen?) und in gleichem Ton und Rhythmus erwiderte der Chor der Mädchen: Mi l’a fait el amore, chi mi vuol tan bein! (Mein Liebster hat sie mir gemacht, der mir so sehr wohl will!) Sie wiegten sich dabei mit den Körpern nicht unschön nach dem Takte, und so oft die Worte tan bein gesprochen wurden, schlug die ganze Gesellschaft rhythmisch in die Hände und sprang mit beiden Füßen auf dem Platze empor, den Taktschlag zu verstärken. Man setzte das eine ganze Zeit lang fort, und ich suchte in Veronika’s Zügen zu lesen, was sie in dieser Gesellschaft und was sie bei diesem Tanze empfände, der mir den Südsee-Insulanern entlehnt zu sein schien. Ihr Auge war hell, ihr Mund lächelte, sie war sehr heiter. – „Wie können Sie diesen Tanz ertragen, der kein Tanz ist?“ fragte ich sie endlich. Sie sah mich an, als falle ihr mein Aeußeres auf, und es wollte mir dünken, als erröthe sie. Aber mich gleich darauf mit ihrem hellen Auge anblickend, sagte sie: „O, der Tanz ist schön! Wir Alle haben die Worte der Scarpetta von unsern Müttern gelernt, und haben die Scarpetta getanzt, sobald wir auf den Füßen stehen konnten. Kindheit und Jugend und unsere Mütter und Gespielen – Alles lebt uns in dem Tanze, in der fröhlichen Scarpetta!“ – Und gleich darauf sang sie wieder ihr: Mi l’a fait el mi amore, chi mi vuol tan bein! und sang es mit einem so fröhlich herausfordernden Blick gegen mich, mit so viel Lust, mit so viel eigenem Behagen und so viel absichtlichem Trotze, daß ich mir eingestehen mußte, es gehöre nicht viel Kunst dazu, diesem schönen Wesen sehr wohl zu wollen!

Als man sich in dem Nationaltanze genug gethan, spielten die Musikanten den Ländler auf, und ein junger Bursche näherte sich Veronika. Ich sah, daß des alten Gunta Stirne sich runzelte, ich mußte lächeln. Die Tochter im Arme des Bauern zu sehen, stand dem aristokratischen Volksmanne doch nicht an; aber das brachte ihn mir menschlich näher, obschon es mir, falls es dessen noch bedurfte, den Beweis gab, wie es mit der allgemeinen menschlichen Gleichheit, welche Herr von Gunta und meine Schwester so zu preisen lieben, hier in diesen Bergen beschaffen ist.

Auch ich mochte jedoch Veronika dem Bauernsohne nicht überlassen. Ich kam ihm zuvor, nahm ihre Hand und führte sie ohne besondere Neigung in die Reihe. Aber es war eine Lust, sie zu heben und zu stützen, sie zu führen und zu halten, in ihr klares Auge zu sehen und die fröhlichen Worte von ihren schönen reinen Lippen zu vernehmen. Wohl dem Mann, dem es einst vergönnt sein wird, mit freiem Herzen sie die ersten Laute der Liebe stammeln zu hören, den ersten Kuß von diesem unentweihten Munde zu trinken.

Man tanzte bis in den Nachmittag hinein, dann brach man plötzlich auf, denn viele der Gäste hatten weite Strecken zurückzulegen, und auch wir dachten uns auf den Weg zu machen. Da aber Veronika, welche ihres Vaters Gäste zu entlassen hatte, uns begleiten sollte, um einige Tage in Thuris zu bleiben, wurden wir aufgehalten, und die Sonne neigte sich zum Untergange, als wir Schloß Gunta verließen.

Conradine, deren Selbstgefühl sich in jedem Zuge, in jeder Aeußerung ihres Wesens ausspricht, ritt allein gleich hinter ihrem Diener her. Ich folgte an Veronika’s Seite, die Mägde der beiden Frauen und mein Reitknecht schlossen den Zug. Veronika, die, wie meine Schwester, immer eine Beschäftigung haben muß, unterhielt sich damit, mir die Namen der Berge, der einzelnen Bergspitzen, der Schlösser, Dörfer und Weiler zu nennen, an welchen wir vorüberkamen. Aber wir waren noch nicht lange unterwegs, als es mir auffiel, wie selbst die nächsten Berge sich vor unserm Blick verschleierten, und wie es dunkler wurde, als es der Zeit auch zu erwarten stand.

Der Tag war schwül gewesen trotz seiner Helligkeit, jetzt lagerten die Wolken sich dichter und dichter zusammen. Bisweilen tauchte ein Stern auf, um schnell wieder zu verschwinden, und ein heißer, schwerer Luftstrom zog in bebenden Schwingungen dann und wann durch das Thal. Hier und da tönte es wie ein Seufzen aus den Schluchten empor, hier und da hallte es wie ein unterdrückter Angstschrei von den Bergen nieder. Die Vögel flogen trotz der beginnenden Dunkelheit noch unruhig kreisend über unsern Häuptern umher und suchten dann in banger Hast ihre Nester zu gewinnen. Veronika war still geworden, ihr Auge schaute sorglich nach der Stelle hin, an welcher die Sonne untergegangen war. Die Nacht brach vorzeitig ein, die Windstöße folgten einander in immer kürzeren Zwischenräumen, das Pfeifen, das Stöhnen, das Grollen in der Luft wurde immer stärker und vernehmlicher, und die schwüle Wärme legte sich, obschon wir uns noch hoch genug befanden, wie mit eisernen Reifen athembeklemmend um Brust und Gehirn.

Conradine wendete sich um. „Dein Vater hat Recht gehabt, Veronika!“ sagte sie, „der Föhn kommt auf!“

„Ja!“ versetzte Veronika, und beide Frauen schwiegen wieder.

Es lag etwas Achtunggebietendes in ihrer Ruhe vor dem Ausbruch einer nahen Gefahr. Und das Unheil ließ nicht lange auf sich warten, denn kaum daß sie gesprochen hatten, so zuckte ein gelber Blitz durch das untere Gewölk, ein zweiter, ein dritter flammten von der andern Seite durch die Finsterniß, und als wären alle Stimmen der Natur entfesselt, so wild brauste, pfiff und hallte es durch die Nacht. Der Schall des Donners verlor sich in dem wilden Tosen. Sich auf dem Pferde zu halten war unmöglich, auch wenn die Thiere weniger von Angst ergriffen und scheu gewesen wären. Ich hatte die Frauen herabgehoben, aber ein Obdach, ja selbst eine Zuflucht war nirgend zu finden. Der Regen begann in Strömen niederzufallen, das ganze Firmament stand in Flammen, der Sturm steigerte sich zum Orkan, wir hörten die Wasser von den Bergen niederbrausen, es wurde kalt und kälter, die Nacht grauenhaft finster, der Regen verwandelte sich in stechend scharfen Schnee, und wir standen mitten auf der Haide, ohne ein Vorwärts, ohne ein Zurück. Mir schlug das Herz in der Brust, ich bangte für die Frauen, deren Mäntel schon lange kein Schutz mehr waren gegen dieses Wetters vernichtende Gewalt.

Unkundig der hiesigen Verhältnisse hatte ich beim Ausbruch des Orkans vorgeschlagen uns unter den Schutz der Bergwand zu flüchten, die sich zur linken Seite der Straße hinzog, aber das Herabrollen der Steine, welche das niederströmende Wasser mit sich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: veramme
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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_067.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)