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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

selber findet, da ist man in seiner wahren Heimath, in seinem eigentlichen Vaterlande. Noch am vorigen Abende waren alle seine Gedanken an Paris, an Versailles, an Franziska gebannt gewesen; heute däuchte es ihn, als lägen eine unermeßbare Ferne und eine unübersehbare Zeit zwischen ihm und jener Frau.

Man war über die Mittagshöhe hinaus, als er den Rottenbuel, sein Stammschloß, zuerst erblickte. Auf einem steilen Felskegel lag es da, weit in die Ferne sichtbar, wie ein Adlernest sicher durch seine Einsamkeit. Das Schloß stützte sich in seiner ganzen Mächtigkeit auf den Steinblock, der es trug, es hatte kein Fundament als das naturerschaffene, ja es sah aus, als sei es die Blüthe dieses Steines, als habe der Stein es mit diesen festen trotzigen Mauern und Thürmen aus sich selbst erzeugt. Kein Reitweg führte zu der Burg hinauf. Die Stallungen waren am Fuße des Felsens gelegen, die Pferde mußten dort zurückbleiben, und feierlich und in sich gekehrt ging der Graf die Windungen des Schloßpfades hinauf, trat er, ein einsamer Wanderer, der Einzige seines Namens, unter das Portal seines Stammschlosses ein.

Altersgraue Diener (Männer sowie Frauen) umgaben ihn unten in der Halle, und segneten ihn und schauten voll freudiger Ergebenheit zu ihm empor, der jetzt ihr Herr war; altersgraue Bilder, so Männer wie Frauen, umgaben ihn oben in dem Saale und schauten mit ihren ernsten Mienen zu ihm herab und schienen ihn zu segnen, der ihr Sohn, der jetzt ihr einziger Erbe war.

Da hing das Bild des Grafen Ruprecht von Rottenbuel, des Ersten seines Stammes, da hing Graf Ubald’s Bild, von dem sein Vater ihm erzählt. Die großen schwarzen Augen unter den ergrauenden Brauen, die weit zurückspringende Stirne und die gewaltige Adlernase hatten etwas Finsteres und Wildes. Finster sah auch die schwarze, eiserne Rüstung aus und die blutrothe Schärpe, die er trug, und finster klang auch die Devise des Geschlechtes: „Einer muß der Letzte sein!“ – Graf Ruprecht hatte diese Worte gerufen, als er in dem Kreuzzuge des Jahres 1228 bei einem Ausfall aus der Festung Jaffa der Letzte gewesen war, welcher, den Rückzug deckend, außerhalb der Thore Stand hielt, und als Kaiser Friedrich II. den Tapferen in den Grafenstand erhoben, hatte er ihm jene Worte als Devise in sein neues Wappenschild zu setzen geboten.

Graf Joseph wiederholte die Devise unwillkürlich, und wie er sie laut vor sich hin sprach, daß sie durch den Saal tönte, dünkte es ihn, als höre er dabei einen Seufzer, und sie klang ihm unheimlich, wie eine böse Vorbedeutung. Aber er war jung und in einer Welt erwachsen, die dem Aberglauben und den Ahnungen nicht viel Raum gab; und von den Männern seines Geschlechtes sich zu den Bildern der Frauen wendend, erheiterte sich sein Sinn, blieb sein Auge endlich an den sanften Zügen seiner Mutter hängen, deren gütevoller Blick, deren mild lächelnde Lippen ihn willkommen zu heißen schienen. Auch das Bild seines Vaters sprach freundlich zu ihm. Er trug in demselben nicht wie in Frankreich die Uniform, nicht den Rock und die Farben des Königs, aber er sah nur noch vornehmer aus in dem reichgestickten bürgerlichen Kleide, wie er dastand, die Rechte auf den Tisch gestützt, auf welchem neben verschiedenen alten Pergamenten die Grafenkrone lag. Er hatte sich darstellen lassen wie ein regierender Herr, und regierende Herren waren die Grafen von Rottenbuel hier auf ihrem Grund und Boden, hier im Bündner Lande, welches das Veltlin beherrschte und seiner Macht bis jenseits der Berge Geltung zu verschaffen wußte.

Die Brust des Grafen hob sich bei dieser Vorstellung, denn Herrschaft, auch die kleinste, ist etwas Verlockendes. Er hatte in seiner Dienstbarkeit unter dem Könige von Frankreich es fast vergessen, daß er Herr auf seinem Grund und Boden sei, und die Grafenkrone, welche er von seiner frühsten Jugend auf in seinem Wappen betrachtet und geführt, sah ihm ganz anders aus, wie sie da auf dem Bilde neben den alten Pergamenten an seines Vaters Seite lag.

In Chur hatte er sich zwischen den andern Häusern, deren Bewohner er nicht kannte, in seinem Hause einsam gefühlt. Hier auf dem Rottenbuel fand er sich frei und gehoben durch sein Alleinsein. Er schaute von der Höhe hinab, und das Land, auf das er blickte, war sein eigen. Er öffnete die Thüren des Saales und trat auf die Altane hinaus. Die Wohnungen der Dienstleute, die Scheuern mit ihren großen Bogenfenstern, der Garten mit seinen weithin schattenden Bäumen, der geräumige Hof, die großen Stallungen machten ihm Freude. Er ließ sich den Castellan kommen, um die Grenze seines Besitzes kennen zu lernen, um mit dem erfahrenen Diener die Documente durchzugehen und Einsicht in seine eigenen Verhältnisse zu gewinnen.

Der Abend, der nächste Tag vergingen ihm bei der ungewohnten Beschäftigung in der angenehmsten Weise. Je mehr er sich in die alten Chroniken versenkte, um so heimischer begann er sich auf seinem Erbe zu fühlen, und je weiter er mit seinen Gedanken in die Vergangenheit seines Geschlechts zurückging, um so ferner trat ihm, was er selbst, was er eben erst erlebt. Es ging in seinem Innern eine Wandlung vor, die er sich nicht zu erklären wußte. Er fand sich plötzlich jener Vergangenheit auf das Festeste verknüpft und angehörend, und von ihr in die Zukunft gewiesen. Ein Geschlecht, das auf seine Ahnenreihe zurücksehen konnte bis in das zwölfte Jahrhundert, durfte nicht untergehen, so lange ein Mann da war, es fortzupflanzen; das alte Schloß durfte nicht einsam, nicht verlassen dastehen und in keine fremden Hände fallen. Er hatte Augenblicke, in welchen er seinen Eltern zürnte, daß sie ihn von dieser Heimath fern gehalten, daß sie selbst nicht hier gelebt hatten, und der vielfach ausgesprochene Wunsch seiner Schwester, daß er heimkehren, sich beweiben und seinen Stamm nicht aussterben lassen solle, däuchte ihm jetzt so sehr berechtigt, daß er ihn in einzelnen Stunden auch zu dem seinen machte.

Aber er konnte für sich nicht an die Ehe denken, ohne daß die Frau ihm wieder einfiel, deren Bild er aus seinem Herzen zu reißen beschlossen hatte; mit dem Gedanken an Franziska, mit dem einen Namen klaffte die alte Wunde, klaffte der alte Zwiespalt in seinem Herzen wieder auf.




Graf Joseph hatte vorgehabt, am nächsten Tage seine Schwester aufzusuchen, aber es war noch früh am Morgen, als man ihm meldete, daß die Freifrau von Thuris nach dem Schlosse komme.

Der Graf trat an das Fenster, und der Anblick, welcher sich ihm darbot, überraschte ihn. Hinter einem vorreitenden Diener ritt die Freifrau, stolz und ruhig auf ihrem Sessel sitzend, auf einem starken Pferde den Fuß des Berges hinauf. Ihre Kammerfrau und noch zwei andere Diener folgten ihr ebenfalls zu Pferde.

Konradine von Thuris war sechszehn Jahre älter als ihr Bruder, und jetzt in der Mitte der vierziger Jahre noch eine Achtung gebietende Schönheit. Sie war groß und stark wie das ganze Rottenbuel’sche Geschlecht, dessen Züge sie vollständig trug. Die starke Nase und die dunkeln Augen, die frische Farbe der Bergbewohnerin und der feste feurige Blick nahmen sich seltsam aus gegen ihr früh ergrautes, fast weißes Haar, das unter der schwarzen Schneppe der Wittwenhaube, über welcher sie den schwarzen breitkrämpigen Reithut aufgesetzt hatte, nach der Mode der Zeit in langen Locken zu beiden Seiten ihres Kopfes herabfiel.

Der Graf eilte hinunter, die Schwester, die ihm fast eine Fremde war, zu empfangen, und Freude und Rührung in den ernsten Zügen, stieg sie an seiner Seite den letzten Theil des Berges und die Treppe des Schlosses hinauf. Als sie mit ihm in den großen Saal des oberen Stockwerks eintrat, blieb sie unwillkürlich stehen, schaute umher und blickte den Bruder an, als wolle sie den Bildern ihrer Ahnen sagen, daß der Erbe und Herr des Hauses da sei.

Dann, als der Diener, welcher ihnen vorangegangen war und ihnen die Thüren geöffnet, sich entfernt hatte, trat sie dem Bruder gegenüber, dessen volle Größe sie hatte, nahm seine Hände in die ihren und sagte mit fester Stimme, während sie ihm, wie Mann dem Manne, die Hände schüttelte: „Willkommen, mein Bruder, willkommen in Deiner Heimath! Ich bin früh ausgeritten, um, wie es sich gebührt, das Oberhaupt meines väterlichen Stammes in seinem Schlosse begrüßen zu kommen. Es hat lange genug leer gestanden, dieses gute Haus, denn Du hattest es fast vergessen, daß die Grafen von Rottenbuel hieher gehören. Laß mich denn gleich in der Stunde des Wiedersehens die Hoffnung aussprechen, daß es Dir gefallen möge, bei uns zu bleiben, auf Deinem Grund und Boden, und als ein guter Bündner und Nachbar unter uns leben.“

Wer sich selbst beherrscht und, wie er sich zu gebieten versteht, auch seiner Umgebung zu gebieten gelernt hat, dessen Ausdruck gewinnt allmählich einen Ton, welcher auf Andere unwillkürlich bestimmend einwirkt, und als die schöne, stolze, hochaufgerichtete Frau jetzt mit ihrem ernsten Worte vor dem Bruder dastand, schloß sich

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