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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

zu Hause gewohnte, und ein täglich anderes Getränk. Man athmet eine andere Luft. Man hat tagtäglich neue Sinnes- und Seeleneindrücke, nimmt eine ganz andere geistige Nahrung zu sich. Der Geist erhebt sich aus den kleinen und engherzigen Kreisen des bisherigen Alltagslebens zu freieren und weiteren Anschauungen über Natur und Menschenleben. Auch die Geschäfte und Sorgen, bis auf die unvermeidlichen Reisegezänke und Abenteuerchen, sind ganz andere als zu Hause. Es kommen, so zu sagen, ganz andere Gehirn- und Organtheile in Function, und die bisher zu Hause eintönig thätig gewesenen ruhen mittlerweile aus. – Namentlich kommt fast das gesammte Muskelsystem, das der willkürlichen sowohl wie das der unwillkürlichen Bewegungen, in neue, zu Hause ungewohnte Thätigkeiten, bei dem Herumklettern, Wandern, Fahren zu Wasser und zu Lande (Ausgleiten, Bergabkollern und ähnliche Extratouren ungezählt); man athmet auf ganz andere Weise und tiefer als zu Hause ein; das Herz schlägt rascher; die Darmmuskulatur vollzieht ihre wurmförmigen Windungen anders. Kurz, das Reisen ist an sich eine Art von Heilgymnastik des ganzen Menschen, und äußert auch die Wirkung einer solchen (präciser und rascher als die selbstlobige sogenannte schwedische gewisser speculativer Heilkünstler!). Das überflüssige Fett des Körpers (was die Reitlehrer „das faule Fett“ nennen) schwindet in wenig Tagen; die Muskeln werden straffer und zeichnen sich schärfer unter der Haut ab; das Körpergewicht wird geringer; damit werden die Körperbewegungen leichter (was man besonders in den Füßen fühlt); man schwitzt weniger bei Anstrengungen, als zu Anfang der Reise; alle Körperfunctionen, besonders die Ausleerungen, gehen geregelter vor sich; – und mit dem allen geht Hand in Hand eine Umwandlung des geistigen Wesens. Man wird thatkräftiger und minder empfindlich. Man erkältet sich weniger leicht, trotzdem, daß man auf die Hitze kalt trinkt, daß man stundenlang in nassen Strümpfen wandelt, daß man in Hemdenärmeln schwitzend in der eiskalten Bergluft herumklettert, – Alles Frevel, welche Einem zu Hause sehr übel bekommen würden. Ja, dieses letztgenannte Klettern in der dünnen, kalten Bergluft scheint eine ganz besondere, den ärztlichen Schwitzmethoden (Hydropathie, Dampfbad etc.) weit überlegene Curmethode zu sein, wobei die kräftigere Oxygenation des Blutes durch den eingeathmeten Bergsauerstoff, die reichliche Ausscheidung durch die Hautporen und die gleichzeitige Abkühlung der Haut und der Lungen zu einer rascheren Bethätigung des gesammten Stoffwechsels zusammenwirken. – Aber auch an andern Organen bemerkt der Reisende bald diese Abhärtung und erhöhte Thatkräftigkeit. Der Magen verträgt die harte und nicht immer schmackhaft bereitete Kost besser; das Auge wird von Schnee und Sonne weniger geblendet, die Fußsohle von den Steinen weniger gedrückt; Hunger, Durst, schlechtes Lager, Hitze und Kälte afficiren den Körper und Geist weniger. Alles das trägt dann mächtig bei zu einer Reform des Charakters, welcher den „gereiften Mann“ immer sehr vortheilhaft vor jedem Stubenhocker auszeichnet.

Wie muß man aber reisen, um für Gesundheit und Vernichtung von Krankheitsanlagen auch wirklich Nutzen zu ziehen ? – Denn man kann leider auch das Gegentheil davon tragen, sich durch eine falsche Reiseart krank, ja zeitlebens untüchtig machen. – Zuvörderst soll der Gesundheits-Reisende (denn nur von diesem ist in allem Folgenden die Rede!) zwar nicht ganz planlos in die Welt hinausfahren, vielmehr möglichst über die Natur und Eigenthümlichkeiten der zu bereisenden Gegenden durch mündliche Erkundigungen, durch Kartenstudium und durch das Lesen von Reisebüchern sich im Voraus unterrichten. Aber die Ausführung der Reise hängt bei dem Gesundheits-Reisenden von so vielerlei Umständen, von Wetter, Stimmung, Gesellschaft, Gelegenheit u. s. w. ab, daß es fast unthunlich ist, auf Tage, viel weniger auf Wochen hinaus einen bestimmten Plan festzuhalten. Ich habe solche Unglückliche getroffen, welche sich für ihre paar Ferienwochen solche Reisepläne Tag für Tag und Etappe für Etappe hatten aufschreiben lassen und sie mit aller Strenge durchführten. Bei Nebel auf den Rigi hinauf, bei Regen und beziehentlich Schnee durch’s Berner Oberland, bei schönem Wetter städtische Merkwürdigkeiten und Kirchen besehen, in der Mittagsgluth anstrengende Märsche gemacht etc. – und solche Leute glauben eine Ferienreise gemacht zu haben und beschweren sich, wenn sie im nächsten Herbst verstimmter und kränklicher sind, als vorher! – Der Gesundheits-Reisende muß seinen Plan so zuschneiden, daß er immer über mehrere, den gegebenen Umständen entsprechende Möglichkeiten gebieten kann; er muß z. B. bei heißem trockenem Wetter in die Nebenthäler und an die Flußquellen hinauf oder über die Wasserscheiden hinweg, bei trübem Himmel in den belebten waldigen Hauptthälern dahin reisen, bei klaren Tagen auf die Höhen und Aussichtspunkte hinauf steigen, bei entschieden regnerischem Wetter aber in irgend eine größere Stadt oder einen Badeort flüchten, wo man gute Gesellschaft, merkwürdige Persönlichkeiten, Lectüre, vielleicht sogar Theater, Kunst- und wissenschaftliche Sammlungen finden kann. Bei Alpenreisen kann man sich aus andauerndem Regenwetter dadurch retten, daß man geschwind mit der Post hinüber nach Italien fährt, wo in der Regel die entgegengesetzte Witterung herrscht oder wenigstens nur kleine Bruchstücke der an den Alpen sich niederschlagenden Wolken hinübergelangen. Sehr zweckmäßig ist es, irgend einen an oder in dem Gebirge gelegenen größeren Ort oder guten Gasthof zum Ausgangspunkte zu wählen, dort die Bagage zu lassen und von da aus Tagesausflüge nach den benachbarten Seitenthälern oder Höhen zu unternehmen; dann weiter nach einer zweiten Station, wo man es ebenso macht. – Ueberhaupt darf eine Gesundheitsreise niemals in eine Hetzerei ausarten. Man nehme sich nicht zuviel vor und sei immer bereit, das Vorgenommene bei Gelegenheit fallen zu lassen. Wo man ein gemüthliches Unterkommen, hübsche Wirthsleute, ein freundlich gelegenes Zimmer, eine nette Gesellschaft findet: da bleibe man tagelang, wenn man gleich bei der Herreise gemeint hatte, nur ein paar Stunden daselbst zu weilen. Ubi bene, ibi mane!

Was auch vorfällt, immer bewahre man seine Gemüthsruhe beim Erdulden wie beim Ausführen. Man verliere nicht den Gleichmuth, wenn nicht Alles so klappt oder stimmt, wie man es vielleicht im Voraus berechnet oder gewünscht hatte, oder wie man es zu Hause gewohnt war. Man bleibe bei guter Laune, wenn Wetter und Wind, Menschen und Thiere, Wege und Flüsse etc. unseren Plänen nicht entsprechen. Man lerne warten. Aber wo gehandelt werden muß, da sei man auch rasch bereit und entschlossen, ohne Nörgelei und ohne durch Hindernisse sich zu ereifern. Man reise früh zeitig aus und komme Abends bei Zeiten in’s Quartier. Wer spät ankommt, hat sich’s selber zuzuschreiben, wenn er im Gasthof von verschlafenen oder dünkelhaften Kellnern albern empfangen und schließlich in eine Dachstube oder ein ungesundes Hofquartier logirt wird. Insbesondere auf den Eisenbahnlinien hüte man sich, spät Abends mit dem letzten Zuge in einer größeren Stadt anzukommen, wenn man nicht im Voraus um Logis geschrieben oder telegraphirt hat. Ich ziehe meist vor, auf der letzten oder vorletzten Station zu bleiben oder seitabwärts nach irgend einem Städtchen oder Badeörtchen abzubiegen, das nicht unmittelbar an der Bahn liegt; weil ich dort den Vortheil habe, freundlich empfangen und zuvorkommend bedient zu werden. Der frühmorgens Eintreffende wird dann auch in größeren Städten und vornehmen Hotels rücksichtsvoll empfangen und hat oft die Auswahl unter den besten Zimmern. – Die Effecten mit Post vorauszuschicken, hat oft sein Bedenken. Aber auch wenn man sein Gepäck bei sich führt, muß man unaufhörlich darauf achten, besonders auf den von Sommertouristen überschwemmten Eisenbahn- und Dampfschifflinien, z. B. in der Schweiz oder am Rheine. Wo nicht, so läuft man Gefahr, daß dasselbe plötzlich nach einer ganz anderen Richtung hinwandert, um erst nach Tagen, Wochen oder gar nicht wiederzukommen. Ich könnte schauerliche Vorfälle dieser Art erzählen!

Das Fußwandern gehört mit zum Wesen der Gesundheitsreisen, darf aber bei diesen nie übertrieben werden. Am besten wandert man in der Morgenkühle drei bis vier Stunden lang, und benutzt dann in den Mittags- oder Nachmittagsstunden irgend eine Fahrgelegenheit, um der Hitze zu entgehen und – besser zu verdauen (zu welchem Zwecke eine im Wagen nach rechts rückwärtslehnende Sitzweise mit von sich gestreckten Beinen besonders empfehlenswerth ist). – Man wandere ruhig, hetze nie, man setze gleichmäßig einen Fuß um den andern in der (zuerst von dem Physiologen Weber nachgewiesenen) Pendelschwingung der Ober- und Unterschenkel, der einzigen Gehweise, welche ohne Anstrengung viele Stunden lang fortgesetzt werden kann, und mittels deren sich auch die erfahrenen Reiseführer trotz scheinbarer Langsamkeit so sicher und ausgiebig „vorwärtsschrauben“. Besonders bergauf gehe man langsam; wer leicht in Kurzathmigkeit und Herzklopfen verfällt, wird sogar gut thun, auf größere Berge hinauf zu reiten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_056.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)