Seite:Die Gartenlaube (1862) 007.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Dr. Luther aus: „Behüt Gott, wie hat mir der Teufel dies Werkzeug geschändet!“ Durch Gebet und kräftige Zusprache rettete ihn Luther, der allein der rechte Arzt war. Melanchthon war von großer Angst krank geworden. Er hatte des Landgrafen Philipp von Hessen ungesetzlichen Schritt, noch eine zweite Frau zu nehmen, gebilligt; und dieser wollte jetzt Melanchthon’s Gutachten veröffentlichen. Luther ruhte nicht eher, bis sein Freund wieder aß. „Damals,“ sagt Martinus, „mußte mir unser Herrgott herhalten; denn ich warf ihm den Sack vor die Thür und rieb ihm die Ohren mit allen seinen Verheißungen, daß er mich erhören mußte.“ – Melanchthon gesteht selbst zu: „Wäre damals Luther nicht gekommen, so wäre ich gestorben.“

Der schwerste Schlag traf Philippus im Jahre 1546 durch den Tod seines treuen Freundes und Mitreformators Dr. Luther. Als dieser am 23. Januar von Wittenberg nach Eisleben abreiste, sahen sich die beiden großen Männer zum letzten Male; am 18. Februar ward Luther zu seinen Vätern versammelt. Mit ihm hatte Melanchthon 28 Jahre lang, treu verbunden, gelebt und gestrebt, gelitten und gestritten. Am 19. Februar, wo Melanchthon durch Dr. Jonas den Heimgang des lieben Vaters erfahren, kommt Ersterer früh 9 Uhr mit verweinten Augen in das Colleg, um über den Brief an die Römer Unterricht zu halten, und erzählt den Studenten Luther’s letzte Lebenstage und Tod. „Ich bin so bekümmert und leidend,“ sprach er unter Thränen, „daß ich zweifle, ob ich fernerhin dies mein Amt in der Schule ausrichten möge.“ Nachdem er nun in einer Rede seine große Betrübniß ausgesprochen, faltet er seine Hände und betet um Schutz für die Kirche. Alle Studenten weinen und schluchzen laut, wie die Kinder, und es scheint, als ob auch die Wände des Saals mit in laute Klagen ausbrächen. – Melanchthon’s liebster und einziger Freund war nur noch Joachim Camerarius, der immer in seiner Nähe war und ihn auf seinen Reisen begleitete; die meisten andern waren gestorben.

Ein Bild der Wehmuth ist der gefeierte Reformator als heimathloser Flüchtling. Der schmalkaldische Krieg 1547 spielte sich auch nach Wittenberg und Umgegend. Am 6. November wurde die Universität aufgelöst, am 9. flohen Professoren und Studenten, Greise, Frauen und Kinder in furchtbarem Schneegestöber aus der Stadt, und auch Melanchthon ergriff den Wanderstab und entwich auch mit Frau und Kindern. Er verlor den größten Theil seiner Bücher und Habe und irrte als armer Flüchtling, den die Noth bisweilen trieb, fremde Hülfe in Anspruch zu nehmen, in Dessau, Zerbst, Magdeburg, Braunschweig, Nürnberg und a. O. unstät umher. Selbst vom Unglück verfolgt, nahm er sich dennoch der ebenfalls fliehenden Wittwe und Kinder Luther’s, über die er Vormund war, liebreich an und geleitete sie sicher nach Braunschweig.

Gegen Ende des Jahres 1547, nachdem des Krieges Ungewitter sich verzogen, finden wir Melanchthon wieder in seiner gewohnten Thätigkeit zu Wittenberg. Benutzen wir diese friedliche Zeit, um Melanchthon im Kreise seiner Familie zu beobachten.

Große Männer gehören der Welt an; die ganze Menschheit ist ihre Familie, sie können in der Regel ihrer eigenen Familie sich nicht hinreichend widmen. Melanchthon’s Herz war indeß nicht zu weit, als daß es für seine Familie nicht laut genug geschlagen hätte. Er lebte ihr, so viel er konnte, und die Familienstube war ihm die kleine Kirche, in welcher die kleinen Englein seine Seele mit himmlischem Frieden und himmlischen Freuden umschwebten.

Da Melanchthon durch zu viele Geschäfte von der Kindererziehung abgehalten wurde, so mußte sein treuer Diener Johann die Kinder, als sie noch klein waren, aufziehen und unterrichten. Melanchthon erlebte an seinen Kindern nicht lauter Freude. Sein ältester Sohn Philipp erbte nicht des Vaters Geist der Weisheit und des Verstandes; auch erfüllte er nicht immer des Vaters Willen, wie er sich z. B. als 19jähriger Student ohne Vorwissen seines Vaters mit einem Leipziger Mädchen heimlich verlobte. Der zweite Sohn starb frühzeitig. Sein ältestes Kind, Anna, dagegen, ganz das Ebenbild des Vaters, war nicht nur ein sehr talentvolles und gebildetes Mädchen, welche z. B. sehr gut Latein sprach, sondern sie war auch sehr schön und liebenswürdig.

Die Geschichte hat eine rührende Scene von ihr aufbewahrt. Als kleines Kind kommt sie einst zu Melanchthon, der sie unter Allen am meisten liebte, auf die Studirstube gehüpft und findet ihn weinend. Es waren böse Nachrichten eingelaufen, die Melanchthon um eine schöne Hoffnung ärmer machten. Sie sah ihn mit ihren schönen großen Augen eine Weile sinnend an, dann ging sie leise zu dem Weinenden, schmiegte sich weich an seine Kniee und hob ihr Schürzchen, um ihm die Thränen zu trocknen. „Nicht weinen, lieb’ Väterle!“ sagte sie selbst unter Thränen. „Dein Aennchen kann das nicht sehen!“ In der Umarmung seines Kindes vergaß der Vater seines Harmes. – Als sie ein andermal allzulange aus dem Hause weggeblieben ist, fragt Melanchthon die Zurückgekehrte: „Was willst Du nun der Mutter antworten, die Dich tüchtig ausschelten wird?“ – „Nichts,“ war die schnelle Antwort des Kindes im Bewußtsein seiner Schuld. Dieses Wort machte ihm ungemeine Freude, und er wendete es oft an, wenn ihn seine Feinde mit Schelten und Vorwürfen verfolgten. „Was werde ich meinen Feinden antworten? Ich weiß es. Nichts, gar nichts.“ Vierzehn Jahre alt verheirathete sich Anna Melanchthon mit Georg Sabinus, früher Schüler des Philippus, später ein Gelehrter und berühmter lateinischer Dichter. Dieser behandelte indeß seine Frau nicht gut, es war eine unglückliche Ehe, und Anna starb vor Gram. Viele Freude bereitete dem Reformator die zweite Tochter Magdalena, die sich neunzehn Jahre alt mit dem Arzt Dr. Peucer vermählte, der später Leibarzt des Kurfürsten von Sachsen wurde. Von ihren zehn Kindern wurden viele in Melanchthon’s Hause erzogen, wie auch Anna’s Kinder daselbst die Erziehung genossen. Als Anhänger des Calvinismus schmachtete Peucer zwölf Jahre lang im Kerker. – Nachkommen von diesem Arzt Peucer und dessen Frau, also aus weiblicher Linie Melanchthon’s, leben noch mehrere, z. B. in Weimar.

Wie ein Kind wurde von Philippus auch sein treuer Diener Johann, ein gutmüthiger Schwabe, gehalten, der 34 Jahre lang Melanchthon’s Wirthschaft führte und dem die ganze Familie das größte Vertrauen schenkte. Wenn Melanchthon auf Reisen war, so schrieb er an ihn lateinische Briefe. Wir sehen daraus, wie aus dem ferneren Umstande, daß er Melanchthon’s Kinder unterrichtete und Predigten las, daß Johann ein nicht ungebildeter Mann, also wohl mehr ein Famulus war, wie sie die Gelehrten früher hatten.

Melanchthon hatte in seinem Hause zehn Jahre lang auch noch eine Erziehungsanstalt, die er theils aus Liebe zur Jugendbildung, theils um seines Unterhaltes willen errichtete. Wie sorglich er mit seinen Schülern war, beweist ein Brief, in welchem er dem Vater eines Zöglings schreibt, er solle nur fünf Thaler schicken, er wolle schon sorgen, daß der Sohn damit auskomme. Viele dieser Schüler aßen mit an seinem Tische. Einer derselben, der „poetische König“ genannt, führte bei der Mahlzeit den Vorsitz, nämlich der, welcher in der vorher gehaltenen Versammlung das schönste Gedicht geliefert; einen andern erwählte Melanchthon als „König des Hauses“ zur Aufsicht. Melanchthon befaßte sich viel mit diesen Jünglingen, ging mit ihnen aus, ließ sie in seinem Hause vor eingeladenen Gästen lateinische und griechische Theaterstücke aufführen, die Melanchthon mit einem Prolog einleitete. – – –

So groß Melanchthon als Reformator der Kirche, der Schule und der Wissenschaften dastand, und so erhaben er über seine Zeit war, so war er doch nicht ganz frei von den Vorurtheilen derselben. Er glaubte steif und fest an einen persönlichen Teufel und an die Sterndeuterei. Sein Schicksal las er, wie Wallenstein, in den Sternen. Mit Luther fuhr er einst auf einfachem Wägelchen, auf das einige Bündel Stroh gelegt sind, an einem tiefen Abhange vorbei. „Philippe! wie sehr müßte sich doch,“ sprach Luther, „der Teufel freuen, wenn er uns hinunter stürzte und uns den Hals bräche!“ Lächelnd stimmte Melanchthon bei.

Auf einer Reise von Leipzig nach Wittenberg zurück zog sich M. Philipp 1560 ein Fieber zu. Obwohl Melanchthon anfangs von der Krankheit sich nicht ganz niederwerfen ließ und noch mehrere seine gewohnten Arbeiten erledigte, so vermuthete er doch sein Ende, auch die Constellation der Gestirne schien ihm dies zu verkünden. Als die Schwäche sich mehrte, sagte er zu seinem Freunde Camerarius, der von Leipzig zu ihm beschieden worden war: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.“[WS 1] Da am 17. April vorübergehende Besserung eingetreten war, ritt Camerarius wieder nach Leipzig zurück. Beide sahen sich nicht wieder. Die Krankheit des Magisters verschlimmerte sich. In der Nähe seines Bettes hing eine große Landkarte, welche er fleißig betrachtete. Da drehte er sich um und sagte mit lächelnder Miene: „Virgundus hat mir einmal aus der Sternguckerkunst prophezeit, ich werde Schiffbruch leiden auf der See; jetzt bin ich nicht weit davon.“ Er verstand

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Phil. 1, 23.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_007.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)