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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)


nicht schicke, außer Landes für eine fremde Sache fechten zu gehen, und sie kannte im Grunde das Alles besser als ich, denn sie hatte es mit erlebt, wozu es führte; und als mein Bruder dann auf Reisen ging und in Neapel Dienste nehmen wollte, hat sie ihm die längsten Briefe dagegen geschrieben, bis er es unterließ.“

„Sind denn überhaupt viel Briefe von Ihrer Mutter erhalten?“ fragte ich.

„Ja freilich! Briefe von der Mutter und von den Andern auch, und Tagebücher ebenfalls. Sie hat sie mir sammt und sonders vermacht, und wenn ich einmal darüber komme, liest es sich wie ein Roman.“

Ich bat sie, mir die Briefe zur Durchsicht zu geben, sie willigte ohne Weiteres ein und schickte erzählend alle die Erklärungen voraus, deren ich nach ihrer Meinung zum Verständniß des Zusammenhanges unter den in den Briefschaften genannten Personen benöthigt war.

„Ich weiß,“ sagte sie, „wenn Sie das Alles gelesen haben werden, so machen Sie gewiß eine Geschichte daraus.“

Ich erkundigte mich, ob sie etwas dagegen einzuwenden haben würde.

„O nein!“ versetzte sie, „meine Mutter kann nur dabei gewinnen, auch meinem Vater und dem Grafen Rottenbuel geschieht keine Unehre damit; und zuletzt ist’s wie mit einem Leichensteine, den man ja auch nur aufrichtet, damit die Todten nicht vergessen werden, wenn Niemand mehr lebt, der sie kannte und der sich ihrer antheilvoll annimmt. Machen Sie mit den Papieren, was Sie wollen. Es liegt der Art hier im Schlosse noch viel mehr aufgespeichert, und es ist bisweilen recht erstaunlich, es zu lesen, auf wie wunderbare Weise die Menschen aus unsern Bergen von jeher mit den Menschen außerhalb in Berührung gekommen sind, und wie mancher Sturm von außen hier den Frieden stören kann. Hier bei uns im Bündner Lande sind oft ganz besondere Dinge vorgegangen!“

Sie ging bei diesen Worten in das Zimmer neben ihrer Stube, in das ehemalige Wohnzimmer ihrer Mutter, dessen Möbel offenbar einer weit zurückliegenden Zeit angehörten. Die Hälfte der einen Wand wurde von einem altersgeschwärzten, unpolirten Eichenschranke eingenommen, von einer Zusammensetzung und innern Abtheilung, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Die Mitte der oberen Hälfte war offen und mit Borden versehen, wie bei einem Schenktisch, und es standen auch verschiedene altmodische Silber- und Porzellangefäße darauf zur Schau. Unten war der Schrank, gleich den beiden Seitenflügeln, mit Thüren verschlossen, und Jungfer Ursula zeigte mir, wie tief der Schrank sei und wie viel Wäsche und Vorräthe allein in der linken Seite desselben aufgestapelt lägen. Die rechte Seite aber hatte in der Mitte einen verzierten Griff von Eisen, von welchem eine etwa drei und ein halb Fuß hohe Stange beweglich herabhing, und ich hatte gleich, als wir in das Zimmer kamen, diese Eisenstange mit Neugierde betrachtet. Nun schloß Jungfer Ursula ein über dem Griffe durch das Schnitzwerk fast verstecktes Schloß auf, und die Eisenstange fiel klappernd herab, um die Stütze für einen kleinen Schreibtisch zu machen, über dessen Platte sich ein ganzer Thurmbau von kleinen Fächern und verborgenen Schiebladen, ein wahres Wunderwerk alter, ausgelegter Schreinerarbeit, aufthat.

„Der Schrank muß zwei-, dreihundert Jahre alt sein!“ rief ich mit Verwunderung aus.

„O gewiß!“ meinte unsere Wirthin. „Es ist ein altes Erbstück aus der Familie meiner Mutter. Sie hat es aus dem Engadin, von Schloß Gunta, wo sie zu Hause war, hierher schaffen lassen, als sie aus Frankreich gekommen ist, um hier meinen Vater zu heirathen, und sie erzählte oftmals, welche Schwierigkeiten es gemacht habe, diesen Schrank über die Berge zu bringen. Er stand sonst immer in dem großen Saale. Als mein Bruder aber das Erbe antrat und die Mutter und ich uns nun ganz auf diesem Seitenflügel des Schlosses einrichteten, ließ sie ihren Schrank und die drei Bilder hier herüber schaffen.“

Jungfer Ursula hatte, während sie also sprach, die betreffenden Papiere aus den verschiedenen Fächern hervorgesucht und händigte sie mir sammt und sonders ein. Es waren Briefe, Notizen, Tagebücher von verschiedener Hand. Dazwischen fanden sich Tauf- und Trauscheine, auch verschiedene Diplome und Officierspatente lagen dabei. Das gute alte Mädchen war sehr gerührt, als sie die Papiere und die Andenken an vergangene Tage und an ein vergangenes Geschlecht vor meinen Blicken auseinander legte.

„Ich habe oft in den Blättern gelesen, und ihr Inhalt ist mir wie ein eigen Erlebtes geworden,“ sagte sie freundlich. „Es soll mich wundern, wie Sie, die Sie gewohnt sind, die Menschen zu beobachten und zu beurtheilen, diese Ereignisse und die Charaktere auffassen werden. Manches, was die Mutter erzählte, steht mir so lebendig vor der Seele, daß ich selbst, wenn die Winterzeit uns nicht zum Hause herausläßt und wir hier in unserm Thale von aller Welt abgeschieden, in Schnee und Eis vergraben sind, versucht habe, die einzelnen Scenen und Vorgänge aufzuschreiben und –“

„Das geben Sie mir!“ fiel ich ihr in das Wort, „denn was eine so einfache und wahrhaftige Seele nach mündlichen Berichten niedergeschrieben hat, das muß Natürlichkeit besitzen, welche unsere Reflexionsbildung kaum nachzumachen im Stande ist.“

Die gute Ursula zögerte eine Weile, ließ sich aber denn endlich doch erbitten, und aus ihren Skizzen, wie aus den Tagebüchern des letzten Grafen von Rottenbuel habe ich die folgenden Thatsachen zusammengestellt, nur ergänzend, was die vorhandenen Briefe unklar ließen.

(Fortsetzung folgt.)




Meister Philipp.

Ein Hausbild aus der Reformationszeit.

Warum war den 25. August 1518 in Wittenberg Alles in Bewegung? Warum strömen Studenten, Professoren, Beamte, Geistliche dort nach jenem Hörsaale? Der junge, neue Professor, welcher vor vier Tagen hier ankam, hält heute seine Antrittsrede. Schon mehrere Tage lebte man in Spannung, heute ist die Neugierde auf’s Höchste gestiegen. Die Thür öffnet sich endlich, und es erscheint ein kleines, unansehnliches, hageres Männchen in langem, bis auf die Füße reichendem Rocke und geht mit schüchternem Schritt auf den Lehrstuhl zu. Die Erwartung der Hörer sinkt tief, sie glauben, der Kurfürst sei getäuscht worden. Als aber das Männlein sich emporhebt, als von seiner gewölbten hohen Stirn, seinem blauen, geistvollen, aber doch sanften Augenpaar der große und edle Geist strahlt und von seinem Munde eine lateinische Rede in Kraft und Anmuth fließt, da durchzieht jede Brust ein Gefühl der Bewunderung; seine Leistungen übertreffen noch seinen ihm vorausgeeilten Ruf. Selbst Luther, der mit anwesend, ist ganz begeistert. Melanchthon, er war es, sprach von der Verbesserung des Studienwesens und begründete namentlich seine Ansicht, daß es in Staat und Kirche werde besser stehen, wenn die beiden alten Sprachen, Griechisch und Latein, wieder mehr und besser getrieben würden.

Philipp Melanchthon (wie er seinen deutschen Namen Schwarzerd gräcisirt hatte) bezog, erst zwölf Jahre alt, 1509 die Universität Heidelberg, erlangte zwei Jahre später die Würde eines Baccalaureus, ging, weil man ihm hier die Magisterwürde verweigerte, 1512 nach Tübingen, wo er 1514 Magister wurde und als Lehrer auftrat und wo er auf Reuchlin’s Veranlassung 1518 den Ruf nach Wittenberg erhielt.

Weil Melanchthon in der Vertheidigung des evangelischen Glaubens als ein so kenntnißreicher Gottesgelehrter sich bewies, so wurde er bald Baccalaureus der Theologie mit 100 meißnischen

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