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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

einsamen Edelhofe Haus hielt. Mitten in der wilden, großartigen Natur machte das zehn Fenster breite dreistöckige Gebäude mit den vier Thürmen an seinen Seiten, mit der starken Gartenmauer, durch deren Gitterthore man schon von außen die hohen Pyramiden und Wände des glattgeschorenen Buchsbaum und Taxus erblickte, einen äußerst wohnlichen Eindruck, und wir hatten daher erst wenige Tage in dem Schlosse gelebt, als wir uns in demselben auch bereits heimisch und bei unseren Wirthen, die wir erst neuerdings kennen gelernt hatten, wie bei alten Freunden eingebürgert fühlten.

Eines Abends, als ein Gewitterregen uns in dem Hause festhielt, hatte Fräulein Ursula die ganze Zimmerreihe des ersten Stockwerks öffnen lassen, und in derselben auf- und niedergehend, kamen wir auch an das Zimmer, das sie selbst bewohnte, und das wir bis dahin noch nicht betreten hatten. Mit jener Zurückhaltung, die an allen Mädchen, je nach ihrem sonstigen Charakter, rührend oder lächerlich sein kann, nöthigte die liebenswürdige Person nur mich allein, ihre Stube in Augenschein zu nehmen, und während die Männer rauchend und plaudernd ihren Wandelgang durch die geöffneten Säle fortsetzten, sah ich mir das kleine, in einem der Thürme gelegene Gemach an, das Fräulein Ursula seit ihrem fünfzehnten Geburtstage, an welchem die Eltern ihr ein eigenes Zimmer gegeben, das heißt seit vollen fünfzig Jahren, inne hatte.

Das Stübchen war traulich und sehr schön gelegen. Aus den mit blendend weißen Gardinen verhängten Fenstern sah man auf die großartige Natur, auf die hohen, wilden Felsenmassen hinaus, welche sich von allen Ecken um das Thal emporhoben, und auf das schwere, düstere Gewölk, das sich bis in das Thal herniedersenkend von dem Sturme hin- und hergetrieben wurde. In dem Stübchen selbst war ein Gegensatz bemerklich zwischen der wohlerhaltenen ursprünglichen Einrichtung des kleinen Gemaches und den einzelnen Möbeln, welche in neuerer Zeit hinzugeschafft worden waren. Neben der schmalen, für ein junges Mädchen berechneten Bettstelle mit den weißen, rosagefütterten Gardinen sahen der bequeme Lehnstuhl und das große Sopha der Matrone befremdlich aus, und doch machte das Zimmer einen guten Eindruck, weil es mit so viel Liebe gehalten war.

„Ich habe hier Alles so belassen,“ sagte Jungfer Ursula, als errathe sie, was mir auffalle, „wie meine gute Mutter es mir eingerichtet. Das sind noch die Tische und Stühle, die sie für mich gekauft; und das Bett, das sie mir hingestellt und geschichtet, soll auch einmal mein Sterbebette sein. Sehen Sie, das Schränkchen dort“ – sie wies auf einen jener altmodigen ausgebauchten und reich mit Messingbeschlägen verzierten Schränke, in welchen man im vorigen Jahrhundert seine Tassen und sonstiges Porzellangeräth aufzubewahren pflegte – „das Schränkchen ist noch von der ersten Pariser Einrichtung meiner Mutter, und ich benutze es wie sie. Es ist eine ganze Sammlung, eine ganze Gallerie von Andenken in dem Schränkchen enthalten. Ich brauche deshalb auch nur darauf hinzublicken, um mich im Geiste von einer Menge von Menschen umgeben zu sehen, die alle schon dahingegangen sind und vorübergezogen, wie dort die Wolken am Berge vorüberziehen.“

Während sie mich auf die ihr werthen Angedenken aufmerksam machte, war mein Auge, von den zierlichen Kleinigkeiten abschweifend, an denen man die Geschmacksveränderung der letzten sechszig Jahre in ununterbrochener Reihenfolge studiren konnte, auf drei in dem Zimmer befindliche, mit grüner Gaze überzogene Oelbilder gefallen; denn auch dem Schlosse Thuris fehlte es nicht an Bildern, und meinem Blicke folgend, sagte Jungfer Ursula, indem sie von dem mittelsten der Bilder den Vorhang fortzog: „das ist meine Mutter!“ Es war ein merkwürdiges Gesicht, das aus der tiefen schwarzen Spitzenhaube hervorsah! Uralt, wie die Frau gewesen sein mußte, als sie zu diesem Bilde gesessen, denn die dunkelbraune Haut war von unzähligen Falten und Zügen wie durchfurcht und die Hände sahen trocken und runzlig wie die Rinde eines Baumes aus, wurde man noch durch den großartigen Schnitt des Profiles und durch den Ausdruck ernster Gradheit überrascht, der aus demselben sprach.

„Die Frau muß ein Charakter gewesen sein,“ rief ich unwillkürlich aus, „und eine Schönheit obenein! Sie sehen ihr auffallend ähnlich, Jungfer Ursula!“

Das gute Mädchen lächelte. „Ja, man hat das immer gefunden, und es ist wahr, meine Mutter muß sehr schön gewesen sein. Ihr aber hat ihre Schönheit, als sie jung war, keinen großen Segen gebracht, und sie hat damals ihren ganzen Charakter nöthig gehabt, um nur mit dem Leben fertig zu werden. Man sollte nicht denken, daß man, wie die Mutter, achtundachtzig Jahre alt werden könnte, wenn man soviel erlebt und getragen hat als sie. Wären Sie vor zwei Jahren hergekommen, so hätten sie meine Mutter noch am Leben gefunden, und Sie hätten an ihr eine ganz andere Gesellschaft gehabt, als an mir. Sie wußte so viel zu erzählen, und sie erzählte so schön!“

„Das gute Erzählen haben Sie auch von Ihrer Mutter geerbt!“ bemerkte ich.

„Ich habe nur nicht so viel und so Verschiedenes erfahren, ich bin immer hier in unsern Bergen geblieben, und so lange die Mutter gelebt hat, habe ich auch nie daran gedacht, daß es hätte anders sein können, denn es kam mir immer vor, als sei ich nur um ihretwillen auf der Welt. Seit sie aber todt ist, fällt es mir wohl bisweilen ein, daß ich gar nicht für mich gelebt habe. Indeß, Gott hat das eben nicht gewollt, und mein Dasein ist dafür auch ein sehr sanftes und ruhiges gewesen.“

So friedlich sie diese Worte sprach, dünkte mich doch, als höre ich sie einen leisen Seufzer unterdrücken und als glänze ein feuchter Schimmer in ihren schönen Augen. Sie hatte sich aber von mir abgewendet, und von den beiden Portraits, welche zur Rechten und zur Linken von dem Bilde ihrer Mutter hingen, die Vorhänge fortziehend, sagte sie: „das ist mein Vater, und das ist der erste Mann meiner Mutter.“

„Graf Joseph von Rottenbuel?“ rief ich mit Ueberraschung, „Ihre Mutter war mit dem letzten Grafen Rottenbuel verheirathet?“

„Sie kennen das Bild?“ fragte mich Fräulein Ursula sichtlich erstaunt.

„Ich habe das Original desselben, denn dieses scheint mir nur eine Copie zu sein, in dem Rottenbuel’schen Hause gesehen,“ versetzte ich, „und das schöne, schwermüthige Gesicht des Grafen hat mich immer wieder angezogen. Ich habe mich oft gefragt, welche Schicksale dieser Mann gehabt, welche Erfahrungen ihm jenen Zug des Seelenleidens in das ursprünglich so glücklich angelegte Gesicht gezeichnet haben mögen. Und diese ernste, streng blickende Matrone zwischen den beiden jungen und schönen Männern hat nun vollends etwas so Besonderes, daß man ein Verlangen fühlt, mehr von diesen drei Personen zu erfahren.“

Jungfer Ursula nickte nachdenklich mit dem Kopfe. „Ja,“ sagte sie, „die haben viel zusammen erlebt, und das ist nachher Alles hier bei uns zur Ruhe gekommen und hier bestattet worden. Und nicht die Drei allein ruhen hier auf unserm Kirchhof in unserm Erbgewölbe. Die Mutter hat das Herz gehabt, auch die Marquise hier bei uns bestatten zu lassen. Sie war groß in allen diesen Dingen, unsere Mutter. Sie sagte: „die Marquise gehört zu mir, wie Leid zur Freude, wie Schatten zum Licht!“ Sie war groß in all den Dingen! Ich hätt’ es nicht gekonnt, denn die Marquise war ihr böser Dämon!“

Die gute Ursula hatte, wie alle Menschen, welche sich stets in engem Kreise bewegen, die Eigenheit, ihr Wissen von den Dingen auch bei den Andern vorauszusetzen; und ihre Aeußerungen und Bemerkungen über den Charakter ihrer Mutter und über deren Schicksale waren dadurch doppelt geeignet, meinen Antheil und meine Neugierde zu erregen. Ich mochte jedoch an dem Abende ihr mit weiteren Fragen nicht beschwerlich fallen, und erst nach längerem Verweilen in Schloß Thuris, erst nachdem Ursula mich lieb gewonnen und ich sie in ihrer ganzen einfachen Güte hatte schätzen lernen, bat ich sie einmal, mir von der Geschichte ihrer Mutter, von dem Schicksal des Grafen von Rottenbuel und von dem Leben ihres Vaters dasjenige zu erzählen, was sie für die Mittheilung geeignet halte.

Sie zeigte sich augenblicklich dazu geneigt. „Das ist Alles so lange her,“ sagte sie, „daß es mir selbst fast wie ein Stück aus der Historie erscheint. Die Zeiten, das Leben, die Menschen und die Sitten sind hier anders geworden. Damals, als Graf Joseph in französischen Diensten stand, war hier im Lande der Adel noch mächtig und Graubünden noch selbstständig für sich, es hatte damals noch die Herrschaft über das Veltlin und großen Einfluß und Besitz bis an die Seen. Jetzt ist das vorbei. Wir gehören zur Eidgenossenschaft, wir sind hier im Lande nur noch Gutsbesitzer, das Veltlin ist nicht mehr unser, und das Dienen in fremden Ländern ist unsern jungen Männern nun endlich auch verboten.“ Sie hielt inne und meinte dann: „Vielleicht ist das Alles recht und gut! Die Mutter blieb immer dabei, daß es sich für einen Edelmann

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