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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Retten Sie, helfen Sie!“ rief Anna schon von Weitem dem Geliebten entgegen.

Er untersuchte den Kranken und fand den Zustand so bedenklich, daß er die Nacht an dem Lager des Patienten zu bleiben beschloß. Umsonst forderte er Anna auf, sich zur Ruhe zu begeben und sich zu schonen; sie weigerte sich, seinen wohlgemeinten Rathschlägen Folge zu leisten. Beide wachten bis zum frühen Morgen nur in Gesellschaft einer Magd, welche der deutschen Sprache nicht kundig war. Angesichts der drohenden Gefahr verstummten ihre Lippen. Anna hatte keinen andern Gedanken, als die Rettung des Vaters, und Brand dachte zu edel von sich und der Geliebten, um ihr früheres Verhältniß nur mir einem Worte zu erwähnen oder darauf anzuspielen. Bald verbreitere sich die Nachricht von der Erkrankung des Gutsbesitzers, und auch der Pfarrer eilte herbei. In seiner Begleitung erschien ein barmherziger Bruder, welcher mit der diesen Orten auszeichnenden Bereitwilligkeit sich der Krankenpflege unterzog. Der Pfarrer hatte wahrscheinlich dabei die Absicht, die Liebenden durch den Mönch überwachen zu lassen, da er vorzugsweise seinen Patron gegen die Eingehung einer gemischten Ehe zwischen dem Doctor und seiner Tochter aufgestachelt hatte. Da die Krankheit mit jedem Tage eine gefährlichere Wendung nahm, so ließ mich Brand ersuchen, mit ihm gemeinschaftlich die Behandlung des Patienten zu übernehmen. Ich kam sogleich nach Empfang seiner Aufforderung auf das Schloß, wo ich den Besitzer desselben so gut wie aufgegeben fand. Jede Hülfe schien hier umsonst, und alle Symptome deuteten auf ein nahes, tödtliches Ende. Ich verschwieg meinem Collegen diese Ansicht nicht und suchte die weinende Tochter durch meine Trostgründe zu beruhigen. Trotz seiner Rohheit liebte Anna ihren Vater mit der größten nur aufopferndsten Zärtlichkeit. Wider meine Erwartung und Voraussage überlebte der Kranke jedoch diese Nacht, und obgleich sein Zustand noch immer keine Hoffnung gab, so war doch wenigstens so viel gewonnen, daß wir noch einige energische Mittel anwenden konnten, welche Brand vorgeschlagen hatte. Es gelang ihm auch, wie ich mich überzeugte, den erlöschenden Lebensfunken wieder anzufachen und von Tag zu Tag den drohenden Ausgang abzuhalten. Nur der sorgsamsten Pflege und der hingebendsten Aufopferung, diesem Wettstreit zwischen der liebevollen Tochter und dem gewissenhaften Arzte, konnte ein solches Wunder gelingen. Beide lösten sich gegenseitig in der Beobachtung und Bewachung des Patienten ab, wobei der barmherzige Bruder sie wesentlich unterstützte. Dieser schien keineswegs so intolerant wie der Pfarrer, da der Mönch in seinem wohlthätigen Berufe schon mehr Duldung und Nachsicht gegen Andersgläubige gelernt haben mochte. Dabei besaß er ein feines und freundliches Wesen, dem eine stille Melancholie einen eigenen Reiz verlieh. Von Woche zu Woche zog sich so die Krankheit hin, ohne sich zu entscheiden oder an eigentlicher Gefahr abzunehmen. Während dieser langen Zeit ermüdeten weder Anna noch mein College in ihrer Aufmerksamkeit und Hingebung für Herrn von Prodschintzky. Beide wetteiferten mit einander in zärtlicher Pflege und gegenseitiger Aufopferung. Endlich war die längst gehoffte und zugleich gefürchtete Krisis eingetreten. In dem stürmischen Kampfe der Natur mit der Krankheit siegte die Kraft der Ersteren. Allmählich kehrte die Besinnung des Patienten wieder zurück, und sein erster Blick fiel auf die gute Tochter.

Die allerdings nur langsam fortschreitende Genesung wurde von einer Reihe seltsamer Erscheinungen begleitet. Herr von Prodschinsky hatte, wie ich dies nicht selten in jener Typhus Epidemie beobachtete, das Gedächtniß für die jüngste Vergangenheit gänzlich verloren. Er erinnerte sich nicht mehr des letzten Auftrittes mit Brand und erkannte kaum den Verstoßenen. Außerdem bemerkten wir an ihm eine seinem früheren Charakter fremde Weichheit und Zärtlichkeit. Wie die meisten Genesenen überließ er sich mit einer gewissen Gefühlsschwelgerei den Eindrücken seines Herzens, und die Liebe, welche ihn von allen Seiten umgab, schmolz die starren Ecken seiner Natur und verlieh ihm eine ungekannte Milde. Seine Dankbarkeit für die Tochter und für seinen Arzt, dessen Verdienste ihm von allen Seiten angepriesen wurden, kannte keine Grenzen. Er streichelte die Wangen Anna’s und küßte sie, so oft sie seinem Lager nahte, um ihm die noch nöthige Medicin oder eine stärkende Brühe zu reichen. Dieselbe Freundlichkeit zeigte er Brand gegenüber, dessen Hand er so lange in der seinigen festhielt, bis der Doctor sich entfernte, um seinen Berufsgeschäften nachzugehen. Von dem früheren Zwist war natürlich keine Rede, und zwischen den drei Betheiligten herrschte die vollkommenste Harmonie, als wenn eben nichts vorgefallen wäre.

Dieser glückliche Zustand konnte jedoch nicht so fort dauern, dafür hatte der Pfarrer schon gesorgt. Obgleich wegen der noch zurückgebliebenen Schwäche des Reconvalescenten jeder fremde Besuch ärztlich verboten war, so wußte er sich doch in der doppelten Eigenschaft als Hausfreund und Seelsorger Eingang zu verschaffen. Nach und nach frischte er durch seine Gespräche die vergangenen Scenen in dem Gedächtnisse des Gutsbesitzers wieder auf, indem er an das Verhältniß seiner Tochter zu dem protestantischen Arzt erinnerte und wieder so viel Unkraut als möglich unter den Weizen säete. Er ließ Herrn von Prodschintzky in nachdenklicher Stimmung zurück, ohne ihn jedoch zu einem entscheidenden Schritt bestimmt zu haben, was doch die ursprüngliche Absicht des Pfarrers war. In der Seele des Gutsbesitzers fand jetzt ein langer Kampf zwischen seiner religiösen Bedenklichkeit und der Dankbarkeit statt, welche er seinem Arzt und Lebensretter zu schulden glaubte. So oft derselbe kam, wollte er mit ihm ernsthaft reden, ihn in angemessener Weise belohnen und dann für immer verabschieden; aber es fehlte ihm der Muth, diesen Entschluß auszuführen, wie fest er sich auch das vorgenommen hatte. Zur rechten Zeit fielen ihm wieder Brand’s Hingebung und all die Opfer ein, welche dieser ihm gebracht hatte; er dachte an die durchwachten Nächte, an die Mühe, die der Arzt sich mit ihm gegeben. Ein Gefühl von Scham hielt ihn zurück, auf die ihm von dem Pfarrer vorgeschlagene Weise zu verfahren. Auch mit seiner Tochter vermochte er nicht zu reden, da all dieselben Bedenken bei ihrem Anblick in ihm aufstiegen und er lieber Alles gethan hätte, als auf diese Weise ihre zärtliche Liebe zu vergelten.

So verging die Zeit, ohne eine Endscheidung zu bringen. Der Frühling war gekommen, und mit den schönen Tagen begann die Epidemie zu verschwinden; die Zahl der Kranken wurde immer geringer, und die fremden Aerzte, welche nur für die Dauer der Typhus-Periode eine Anstellung von Seiten der Regierung erhalten hatten, kehrten nach und nach wieder in ihre Heimath zurück. Auch Brand rüstete sich zur Abreise, wenn auch mit schwerem Herzen. So viel Mühe sich auch Anna gab, ihren Schmerz über den Abschied zu verbergen, so wenig gelang es ihr, ihren Vater zu täuschen. Herr von Prodschintzky bemerkte nur zu bald die Blässe ihrer Wangen, die Abnahme ihrer Heiterkeit, all die Zeichen, durch welche sich die innige Liebe wider ihren Willen selbst verräth. Noch war der Typhus nicht gänzlich geschwunden, und der Gedanke, daß eine derartige Gemüthsbewegung seiner Tochter die Krankheit leicht hervorrufen könnte, lastete schwer auf dem Herzen des Gutsbesitzers. Bei dem nächsten Besuche, den ich auf dem Schlosse abstattete, nahm er mich bei Seite, um meine Ansicht und meinen Rath zu hören. Bald machte er mich zum Vertrauten seiner Sorgen und Bedenklichkeiten.

„So steht es,“ schloß er die Unterhaltung. „Meine Anna liebt den jungen Mann, und ich hätte nichts dagegen, wenn er nicht ein Protestant wäre. Verzeihen Sie meine Rede, aber ich bin immer gutes Katholik gewesen und möchte auch als solches sterben. Sagen Sie mir aufrichtig, ob mein Tochter Typhus bekommen und caput gehen kann, wenn es sich grämt.“

„Ich kann Ihnen,“ entgegnen ich, „darüber keine bestimmte Auskunft geben, obgleich eine große Gemüthsbewegung allerdings während der Dauer einer Epidemie sehr leicht schaden und die Krankheit zu einer schnellen Entwicklung bringen kann.“

Während ich so sprach, standen dem Gutsbesitzer die Thränen in den Augen; denn er liebte seine Tochter mit der ganzen Heftigkeit einer rohen, aber auch kräftigen Natur.

„Zum Teufel!“ rief er in komischer Rührung nach einem harten Kampfe aus. „Da wird mir nichts übrig bleiben, als nachzugeben. Aber Sie Doctor sind an all dem Unglück schuld, denn Sie haben mir den jungen Mann in’s Haus geführt.“

„Sie vergessen,“ mahnte ich, „daß Sie seinen Bemühungen das Leben zu verdanken haben. Ohne seine unermüdliche Thätigkeit wären Sie schon längst begraben.“

„Ist sich wahr,“ sagte Herr von Prodschintzky, „aber was wird der Pfarrer sagen?“

Ich suchte, so gut dies anging, seine religiösen Scrupel, welche von Neuem, in ihm erwacht waren, zu beseitigen, indem ich ihn auf die Pflicht der Dankbarkeit und auf den Glauben verwies, der alle guten Menschen zu einer großen, unsichtbaren Kirche der

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