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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

ohne welchen er dasselbe einem gänzlichen Ruine ausgesetzt weiß. Bei den Anstalten zur Rettung aus Seegefahr dagegen wird der edle Zweck durch keinen, wenn auch noch so geringen, Nachtheil des Mittels beeinträchtigt, und auch darum hoffen wir, daß sich mit der Zeit der Wohlthätigkeitssinn aller Deutschen bei diesem Unternehmen mit allem Nachdruck bethätigen werde.

In dem von Vegesack aus erlassenen Aufruf an die gesammte deutsche Nation ist angedeutet worden, daß man s. Z. detaillirten Bericht und Vorschläge über diesen Gegenstand mittheilen würde. Während der Aufruf da, wo das Bedürfniß von Rettungsstationen am lebhaftesten gefühlt wurde, das erfreulichste Resultat gefunden, in Ostfriesland mit der Bildung eines allgemeinen Rettungsvereins für die dortigen Küsten zu Emden, auch zu Hamburg und an einigen anderen Plätzen mit der Bildung von Comité’s wenigstens ein Anfang in der Sache gemacht ist: scheint man

Rettung durch den Raketenapparat. Verbindung mit dem Schiff mittels der Raketleine.

in Bremen mit der Inangriffnahme der Sache zu zögern, weil man sich durch das Gutachten eines einzelnen Seemannes, „die Sandbänke und Riffe der Nordsee, auf denen die Strandungen meistens vorkämen, seien von der Küste zu weit entfernt, als daß Rettung dahin gebracht werden könne, auch beim Vorhandensein geeigneter Rettungsboote sei die seekundige Bevölkerung der Inseln so schwach, daß es an Mannschaft zur Bedienung mangeln würde,“ wie es scheint, gänzlich hat zurückschrecken lassen. Es stehen diesem Gutachten aber Erklärungen anderer tüchtiger, der Nordseeküsten kundiger Seeleute direct entgegen, und es versteht sich von selbst, daß bei einem Unternehmen, welches auf die Rettung von Menschenleben abzweckt, große, ja die größten Hindernisse und Schwierigkeiten überwunden werden müssen! Daß die Schwierigkeiten an den englischen Küsten nicht geringer gewesen sind, als an den deutschen, ist wohl überflüssig zu erwähnen. Wären sie aber auch tausendfach schwieriger gewesen, der Engländer würde sich niemals durch bloße Muthmaßungen von der Ausführung haben zurückschrecken lassen.

Bei der gemeinnützigen Natur der Sache selbst und ihrer nationalen Bedeutung, namentlich aber um die Anregung zur Ausführung derselben möglichst allgemein zu machen, folgen hier nunmehr diejenigen Andeutungen und Vorschläge, welche auf Grund des vorhandenen Materials überhaupt gegeben werden können. Es muß demzufolge dem Urtheile Sachverständiger und der Kritik im Allgemeinen vorbehalten bleiben, etwaige Irrthümer aufzudecken, etwaige Mängel auszufüllen. Natürlich wird jeder Wink darüber und jede Besprechung, auf welchem Wege sie auch geschehen mag, mit Dank entgegengenommen werden.

Das einzige ausreichende und brauchbare statistische Material über die Unglücksfälle zur See, sowohl in Bezug auf die Fahrzeuge als in Rücksicht auf den Verlust oder die Rettung von Menschenleben, bieten die Erfahrungen der Royal national life boat institution in England. Selbstredend geben diese nur Kunde von den Ereignissen an den Küsten Großbritanniens. Nach Ausweis derselben war das Jahr 1859 (über das verflossene Jahr liegen die officiellen Berichte hierorts noch nicht vor, doch übersteigt dasselbe das vorhergehende in seinen Schrecknissen sicherlich) bis dahin das schiffbruchreichste in der englischen Geschichte. Es hat 1645 Menschenleben und Eigenthum für nahe an zwei Millionen Pfd. St. verschlungen. Bei dieser Entsetzen erregenden Zahl ist freilich zu erwägen, daß England der Mittelpunkt des Welthandels ist, daß es als solcher die größte Zahl Kauffahrer beschäftigt und von allen Theilen der Erde wie ein Magnet an sich zieht; daß im Jahre 1859 allein 300,580 Fahrzeuge von 31,712,500 Tonnen Gehalt in britischen Häfen ein- und aus denselben wieder ausliefen, daß sich über eine Million Menschen auf diesen Schiffen in die See hinauswagte, und daß die Küsten Englands zu den gefährlichsten Europa’s gehören. Dazu kommen noch besondere Unglücksmomente: die heftigen Stürme im Herbste 1859, die allein den Tod von 798 Menschen veranlaßten; sowie der Untergang des „Royal Charter“ mit 446, der „Pomona“ mit 424 und des „Blenvic Castle“ mit 56 Personen.

So fürchterlich nun jene Jahre auch den Schiffen gewesen sind, so ist es doch ein Trost, aus den officiellen Nachrichten zu erfahren, daß namenloses Unglück durch den Verein für Rettungsboote und andere zur rechten Zeit angewandte Rettungsmittel verhütet worden ist. Allein im Jahre 1859 wurden 2233 Personen dem sicheren Tode durch Rettungsboote, Raketenapparate und dergleichen entrissen; im Ganzen sind seit 36 Jahren nicht weniger als 11,401 Menschenleben gerettet worden!

Anders ist’s in Deutschland. – In Deutschland existirt leider eine Statistik über diese Ereignisse gar nicht, und wer und wie viel Mitmenschen an den deutschen Küsten umgekommen sind, darüber breitet sich, wie über so manche andere deutsche Angelegenheit,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_812.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2022)