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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

neuer Schandfleck war in die Blätter der deutschen Geschichte durch die Feigheit und Ehrlosigkeit eines einzelnen Mannes eingegraben, schwere unheilvolle Folgen gingen aus diesem einen Schritte hervor. Die Hauptbedingungen der 18 Artikel der schmachvollen Capitulation waren folgende:

Die Stadt und Festung Magdeburg wird den Truppen des sechsten französischen Armeecorps mit sämmtlichen Geschütz-, Munitions- und anderen Vorräthen übergeben.

Die Garnison marschirt am 11. November Morgens 11 Uhr mit allen kriegerischen Ehrenzeichen vor das Ulrichsthor, streckt das Gewehr, und die Cavallerie giebt die Waffen und die Pferde ab. Die Garnison wird zu Kriegsgefangenen. Die Soldaten werden nach Frankreich geführt, die Officiere können auf ihr Ehrenwort, nicht gegen Frankreich zu dienen, gehen, wohin sie wollen.

Die Soldaten behalten nur ihre Tornister und Mantelsäcke, die Officiere ihre Degen, Bagage und Pferde. Verwundete und Kranke können bis zu ihrer Genesung in Magdeburg bleiben; ebenso die dort verheirateten Officiere etc. Und in einem der acht Nachtragsartikel war noch bemerkt, daß der Commandant Du Trossel im Besitz seiner Amtswohnung bleibe und von jeder Einquartierung und anderen militärischen Lasten befreit bleibe.

Es ist unbegreiflich, wie Männer so feig und schmachvoll handeln konnten. An der Spitze von 19 Generälen, welche zusammen 1300 Jahre zählten, übergab Kleist Preußens stärkste Festung.

Die Feinde jubelten über einen so leichten Sieg. Napoleon erließ am 12. November in Berlin den stolzen Tagesbefehl, daß einem französischen Corps von 7000 Mann mit zwei Haubitzen gegenüber 20 Generäle, 800 Officiere, 20,000 Mann Infanterie, 400 Mann Cavallerie und 2000 Mann Artillerie in Magdeburg die Waffen streckten, und daß den Siegern 51 Fahnen, 8 Standarten, 800 Stück Kanonen, ein Train von Pontons, 1 Million Pfund Schießpulver und beträchtliche Magazine in die Hände fielen.

Als die Soldaten am Abend des 8. November die Capitulation erfuhren, entstand ein neuer Aufruhr unter ihnen, aber auch jetzt hatte keiner der angesehenen Officiere den Muth, sich an ihre Spitze zu stellen. Mit Begeisterung würden sie ihm gefolgt sein. Die ganze Nacht hindurch währte der Aufruhr und die Unruhe auf den Straßen. Am folgenden Morgen wurden sämmtlichen Soldaten die scharfen Patronen abgenommen. Nachmittags zwei Uhr am 10. November besetzte eine Compagnie französischer Grenadiere nach der Uebereinkunft das Ulrichsthor und die Außenwerke desselben.

Um elf Uhr des folgenden Tages rückten die einzelnen Regimenter mit Trommelschlag und klingendem Spiel auf das Glacis vor dem Ulrichsthor. Viele der Soldaten weinten vor Erbitterung und Scham. Es war wohl berechnet von dem Gouverneur gewesen, daß er ihnen die scharfen Patronen hatte abnehmen lassen: in diesem letzten Augenblicke würden sie dieselben angewendet haben, denn die Wuth brach bei Vielen so gewaltig hervor, daß sie Fenster und Laternen auf dem Wege zertrümmerten.

Auf dem Glacis hielt der ehrlose Gouverneur zu Pferde zwischen dem Marschall Ney und General Vandamme. Die Regimenter defilirten an ihnen vorüber und mußten darauf im Angesicht weniger gegenüber aufmarschirter französischer Bataillone das Gewehr strecken. Manche bittere Thräne floß, mancher laute, heftige Fluch über den Gouverneur wurde ausgestoßen. Soldaten und Unterofficiere machten darauf rechtsum – und wurden nach Frankreich transportirt. Die Officiere steckten den Degen ein und kehrten in die Stadt zurück, welche sie noch an demselben Tage verlassen mußten.

Erst jetzt rückte der Marschall Ney in die Stadt, neugierig die Festungswerke zu besichtigen, und er war erstaunt, als er sie sämmtlich im besten Zustande fand. Er nahm in der Domdechanei am Neuen Markte Quartier, und sein erstes Werk war, daß er der Stadt, unter Androhung der Plünderung, 150,000 Thaler abpreßte. Vandamme raubte auf eigene Hand, nahm aus Rechnung der Commun die besten Pferde für sich und plünderte selbst Kaufmannsläden. Der Gouverneur Graf von Kleist verließ am 12. November die Stadt, das Grab seiner Ehre, und reiste nach Berlin, wo er bis zu seinem bald nachher erfolgenden Tode unter französischem Schutze lebte.

Der König von Preußen erließ am 1. December 1806 von Königsberg aus die Verordnung, nach welcher die Commandanten von Magdeburg, General Kleist und Oberstlieutenant Du Trossel, sowie sämmtliche in Magdeburg anwesend gewesene Generäle, welche bei dem versammelten Kriegsrathe für die Uebergabe gestimmt hätten, ohne Abschied zu entlassen seien. Kleist’s Familie faßte sogar den Entschluß, ihren so tief geschändeten Familiennamen aufzugeben – das Alles vermochte eine That nicht zu sühnen, für die es keine Sühne und keine Rechtfertigung giebt! Die Geschichte hat darüber zu Gericht gesessen! –




Rettungsstationen an deutschen Küsten.
Eine Mahnung an die deutsche Nation.

Es ist bereits im November 1860 öffentlich von dem bremischen Hafenstädtchen Vegesack aus der Plan in Anregung gebracht worden, „im Wege des Aufrufs an die gesammte deutsche Nation deren Wohlthätigkeitssinn für Errichtung von Rettungsstationen an den deutschen Nordseeküsten zu erwecken.“

Nur der traurigen Zersplitterung unseres Vaterlandes ist es zuzurechnen, daß auch nach der angegebenen Richtung hin für Deutschlands Küsten noch nichts geschehen ist.[1] Die Nordsee, soweit sie nicht deutsch ist, bietet dem mit der Wuth der Elemente ringenden Seemanne überall die Möglichkeit einer Rettung. Selbst Dänemark zeichnet sich wenigstens in dieser Hinsicht vor den Deutschen aus. Und wenn der englische Seemann sich den Küsten seines Vaterlandes nähert, so weiß er, daß auch in furchtbarer Wetternacht offene Augen für ihn wachen; kehrt der deutsche Seemann oder Reisende heim, so muß er befürchten, selbst angesichts der Küsten seines eigenen Vaterlandes noch elendiglich umzukommen, weil die unselige innere Zersplitterung und der Particularismus desselben es unfähig macht, von Staatswegen auch nur die allernothwendigsten Vorkehrungen zu seiner Rettung zu treffen.

Wenn es nun auch natürlich ist, daß die ersten Schritte zu einem Unternehmen, welches hier Abhülfe bringen soll, von den Bewohnern der deutschen Uferstaaten ausgehe, so ist die Sache selbst doch ihrer Natur nach eine nationaldeutsche, wie irgend welche andere. Denn ist es nicht die Pflicht Aller, zur Rettung derjenigen nach Kräften beizutragen, welche unter unablässiger Mühe und stetem Wagniß ihres eigenen Lebens die Vermittler sind der Segnungen, welche durch die Seefahrt sich auch über ganz Deutschland verbreiten? Befindet sich nicht unablässig eine bedeutende Zahl auch von Binnenländern als Passagiere oder Auswanderer auf der See? Und ist es für ein deutsches Herz gleichgültig, wenn es nach einem Blick über die civilisirten Nationen Europa’s wahrnimmt, daß gerade Deutschland wiederum dieser großen Pflicht der Humanität einzig nicht genügt, während der Engländer, der Franzose, der Holländer, ja selbst der Däne, seine Küsten mit Rettungswerken überall versehen hat?

Die unaufhörlichen Hülferufe, welche unsere Zeitungen bringen, wenn Feuersbrünste oder Ueberschwemmungen irgendwo im deutschen Vaterlande oder auch auswärts stattgehabt, bezeugen dagegen durch ihren Erfolg noch stets in erhebender Weise den Wohlthätigkeitssinn unserer Nation. Und dennoch ist die Wohlthätigkeit, wenigstens soweit das Element des Feuers die Zerstörung schuf, vielleicht nicht einmal am rechten Platze. Die gemeinnützigen Unternehmungen aller Art, welche heutzutage so recht zum Wohle der Menschheit geschaffen sind, Versicherungsanstalten oben an, machen den zu einem Fahrlässigen, welcher versäumt, gegen eine geringe Leistung seinem Besitzthume denjenigen Schutz angedeihen zu lassen,


  1. An der Ostsee hat Preußen von Derfer-Ort im Reg.-Bez. Stralsund bis zur russischen Grenze 19 Rettungsstationen errichtet; es erschienen darüber zwei Schriftchen, das eine vom Major Trost, „Ueber den Gebrauch des an der preußischen Küste üblichen Rettungsapparates“, das andere vom Hauptmann Giersberg, „Instruction für den Gebrauch des an der preußischen Küste üblichen Rettungsapparates etc.“; welche Erfolge bis jetzt dort erzielt worden sind, ist uns nicht bekannt.
    A. d. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_811.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2022)