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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ein Stück preußischer Schande und preußischer Ehre.

Nr. 1.
Die Schande.

Blicken wir in die Vergangenheit zurück, so bleibt uns manche That in derselben unbegreiflich. Wir vermögen wohl die Begeisterung und den Todesmuth zu fassen, mit denen so Mancher sein Leben der Ehre und dem Vaterlande zum Opfer gebracht hat, wir sind im Stande, den kühnen Geistesaufschwung, der so Viele zu edlen und kühnen Thaten bewogen hat, nachzufühlen, vergebens bemühen wir uns indeß, in das Innere so manches Mannes zu blicken, der, sei es aus unbegreifbarer Feigheit oder aus niederer Selbstsucht, Ehre und Pflicht mit Füßen getreten und für immer einen Schandfleck auf seinen Namen gehäuft hat.

Und leider nennt uns die Geschichte Deutschlands neben einer Fülle großer und edler Männer auch so manchen Namen und so manche That, von denen wir uns immer mit innerer Erbitterung abwenden und die dennoch durch nichts auszulöschen und durch nichts zu sühnen sind. Namentlich die Geschichte des für Preußen und damit für ganz Deutschland so unheilvollen Jahres 1806 ist reich daran. Während Blücher nach der Schlacht bei Jena sich mit seiner muthigen Schaar bis Lübeck durchschlug, zweimal auf die Aufforderung zu capituliren entschlossen trotzig erwiderte: „Ich capitulire nie!“ und, als er dennoch endlich, durch die höchste Noth gezwungen, bei Ratkau die Waffen strecken mußte, unter den Vertrag schrieb: „Ich capitulire, weil ich kein Brod und keine Munition habe,“ – ergab sich Hohenlohe ohne Schwertstreich bei Prenzlau mit 10,000 Mann und 1,800 Pferden, welche so leicht zu retten gewesen wären. Während in Kolberg der siebenzigjährige Bürger Nettelbeck einen schlaffen Befehlshaber fast mit Gewalt zur Vertheidigung der Festung zwang, bis Oberst Gneisenau zur Hülfe eintraf; während in Graudenz der General Courbière, als man ihm vorspiegelte, Friedrich Wilhelm sei aus seinem Reiche geflüchtet und Preußen habe aufgehört zu sein, entschlossen erwiderte: „Nun gut, so bin ich in Graudenz König,“ – wurden die Festungen Erfurt, Magdeburg, Küstrin, Spandau, Stettin, Hameln etc. alle ohne einen einzigen Schwertstreich, meist durch die kopflose Feigheit oder die schmachvolle Verrätherei ihrer Commandanten, dem Feinde übergeben. In Hameln steckte Schöler an der Spitze von 10,000 Mann, hinter den starken Wällen der Festung geborgen, bei dem Nahen von 6000 Franzosen die weiße Fahne auf; Stettin mit 5000 Mann wurde durch die Feigheit des Generals von Romberg an 800 Husaren übergeben, so daß Napoleon übermüthig an Mürat schreiben konnte: „Es scheint, als ob man die schwere Cavallerie ganz entbehren kann, da die preußischen Festungen jetzt durch Husaren erobert werden.“ Der feige Oberst von Ingersleben, Commandant von Küstrin, rings durch Moräste gegen jeden Angriff geschützt, mit 2,700 Mann Besatzung und 90 Kanonen auf den Wällen, ritt sogar, als eine einzige französische Division Infanterie sich näherte, dem Feinde entgegen, ihm die Uebergabe anzubieten, und er mußte den Feinden erst Kähne senden, um über den Arm der Oder zu gelangen und von der Stadt Besitz zu nehmen; und der Commandant einer andern Festung übergab dieselbe um den Preis, daß er seine Küchengeräthschaften mit sich nehmen dürfe.[1]

Von größter Bedeutung war die schmachvolle Uebergabe Magdeburgs, der stärksten und wichtigsten Festung des ganzen preußischen Staates, des Hauptstützpunktes an der Elbe. Und der diese Festung übergab, trug den Namen Kleist. Er war ein siebenzigjähriger Greis, aber das Alter kann eine ehrlose That nicht entschuldigen; hart, schonungslos ist seiner Zeit über ihn geurtheilt worden, weil man die Schuld von all dem Unglück, welches seiner That folgte, ihm aufhäufte; die Geschichte pflegt in solchen Fällen ruhiger zu blicken und milder zu urtheilen – es sind über fünfzig Jahre seitdem entschwunden, und dennoch suchen wir vergebens nach einem Grunde, der die Schmach seiner That mildern könnte. Sie muß heute wie damals gleich schonungslos verdammt werden.

Als nach der Schlacht von Jena die ganze preußische Armee zerrissen, zerstreut und ohne einheitliche Leitung nach verschiedenen Gegenden eilte, suchten die meisten Abtheilungen Magdeburg zu erreichen, um sich dort zu sammeln und wieder zu ordnen, denn in der Brust der meisten Soldaten lebte die feste Hoffnung, daß sie auf’s Neue gegen den Feind geführt und Gelegenheit erhalten würden, den Tag von Jena und Auerstädt wieder auszugleichen.

Der König Friedrich Wilhelm war am 17. October in Magdeburg angelangt, verließ indeß die Stadt schon am folgenden Tage, um bei Tangermünde über die Elbe zu gehen, nachdem er den Generälen in Magdeburg aufgetragen, die versprengten Truppen zu reorganisiren. Ueber 100,000 Mann, mit Einschluß des Trains, sammelten sich an den folgenden Tagen in der Festung. Viele von ihnen blieben ohne Quartier. Die breitesten Straßen waren mit Gepäck- und anderen Wagen dicht verfahren. Es fehlte die Hand, welche Ordnung hätte schaffen können. Selbst die zum größten Theile nach Magdeburg gerettete Kriegscasse wurde nicht einmal bewacht und von unwürdiger Hand geplündert. Die Pferde waren zum Theil in den Kirchen (Johannis-, Katharinen-, Petri- und Jacobikirche) untergebracht. Die Disciplin hatte aufgehört, denn es war nur ein wildes Chaos von Soldaten.

Was Fürst Hohenlohe zu sammeln und zu ordnen vermochte, führte er am 21. October, statt an Vertheidigung zu denken, aus der Stadt über die Elbe. In der Festung blieben noch über 23,000 Mann zurück unter dem Oberbefehl des Generals der Infanterie und Gouverneurs Graf von Kleist. Er war ein siebenzigjähriger Greis, kopf- und herzlos, nur auf eigenes Interesse bedacht und nur zum Gamaschendienst brauchbar. Ihm zur Seite standen der General Graf von Wartensleben, von Ingersleben, von Renouard, von Schack, von Tscheppe, der Commandant der Festung Du Trossel und Andere. Auf den Wällen standen mehr denn 800 Kanonen, Munition war in reichster Menge vorhanden, und die Stadt war für ein Jahr verproviantirt.

War durch Hohenlohe’s Abzug mit den gesammelten Regimentern auch nur ein Gemisch der verschiedensten Montirungen zurückgeblieben, befanden sich auch nur 400 Mann Cavallerie in der Stadt, welche einen Ausfall ziemlich unausführbar machten: so waren die Truppen doch leicht zu ordnen und reichten vollständig zur Vertheidigung der Festung, deren Werke und Wälle sich im besten Zustande befanden, aus. Freilich war der Gouverneur von Kleist nicht der Mann dazu, da er schon bei dem Gedanken an eine Belagerung erbitterte, obschon er wissen mußte und auch wußte, daß das französische Heer auf eine Belagerung nicht vorbereitet war, da ihm jegliches Belagerungsgeschütz fehlte.

Auf Napoleon’s Befehl war mit der Einschließung Magdeburgs so lange gezögert, bis sich sämmtliche in der Umgegend zerstreute Truppen des preußischen Heeres in der Stadt versammelt hatten, um mit einem Schlage so viele Gefangene als möglich zu machen. Ney’s, Soult’s und Davoust’s Corps hatten zu dem Zweck sogar die Gegend in einem Umkreise von funfzehn Meilen durchstreifen müssen, um alle preußischen Soldaten nach Magdeburg zusammen zu treiben.

Die Truppen in der Stadt selbst wurden endlich so weit geordnet, daß sie in vier Brigaden getheilt wurden, welche unter den Generälen von Alvensleben, von Schack, von Tscheppe und von Renouard standen und von denen eine jede ihren bestimmten Alarmplatz hatte.

Bereits am 20. October hatte der Feind auf dem linken Elbufer seine Vorposten um die Stadt her aufgestellt, und von Seiten des Gouverneurs war nichts geschehen, dies zu verhindern, so leicht es auch war. Darauf legte sich Marschall Ney mit seinem 7000 Mann starken Corps vor die Festung, während er selbst in dem drei Stunden entfernten Schönebeck sein Hauptquartier aufschlug. Durch die aufeinander folgenden Siege, durch die schmachvollen Capitulationen Erfurts und Hamelns übermüthig gemacht, schickte Ney den Capitain Regnard als Parlamentair in die Stadt, um dieselbe zur Uebergabe aufzufordern. Kleist empfing ihn in Gegenwart seines Stabes, der Generäle und Commandanten. In

  1. Die Commandanten der drei glücklich vertheidigen preußischen Festungen Graudenz, Pillau und Cosel waren Bürgerliche, die Befehlshaber der übrigen, so schändlich preisgegebenen Bollwerke Preußens sämmtlich – Adelige. Wie stolz muß sich die Brust der neucreirten preußischen Krönungs-Barone und Freiherren heben, wenn sie den Staub einer Atmosphäre von sich abschütteln, aus der in Zeiten der Noth so tüchtige Patrioten und unerschrockene Kämpfer hervorgingen!
    D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 809. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_809.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)