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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

zupfte die ältere Schwester im Zustande vollkommener Bewußtlosigkeit an der durchlöcherten Decke und trieb jenes verdächtige, krampfhafte Spiel der Hände, welches nur zu häufig dem tödtlichen Ende voranzugehen pflegt. Zwei Kinder kauerten mit brennenden Wangen und eingefallenen Augen unter einem alten, zerrissenen Mantel. Doch das schrecklichste Schauspiel wartete noch unser. Mitten in diesem Knäul von Kranken und Sterbenden, von Jammer und Elend entdeckten wir eine – Leiche, den leblosen Körper der Mutter. Die Todte ruhte unter den Lebenden, weil Keiner der Angehörigen die Kraft besaß, sie aus dem Hause und auf den Kirchhof zu schaffen. Mit Thränen in den Augen antwortete der Bauer auf unsere Fragen.

„Niemand hat unsere Schwelle seit dem Ausbruch der Krankheit in meinem Hause überschritten. Alle fürchten sich vor der Ansteckung, und Keiner zeigte sich, um uns zu helfen. Meine arme Frau ist gestorben, und ich bin nicht im Stande, sie fortzuschaffen, weil ich mich selber noch zu schwach fühle. Wenn sich der liebe Gott nicht unser erbarmt, so müssen wir noch Alle zu Grunde gehen.“

Mein junger College versprach ihm, schon morgen wieder zu kommen und nach dem Befinden der Patienten zu sehen. Außerdem übernahmen wir die Sorge für das schleunige Begräbniß der Leiche, auch bewilligten wir ihm aus dem uns zu Gebote stehenden Unterstützungsfond eine kleine Geldsumme und die zweckmäßigen Nahrungsmittel, Reis, Gries und Kartoffeln. Wir konnten den dankbaren Bauer nicht verhindern, daß er uns nach slavischer Sitte die Hände küßte. Von seinen Segenswünschen begleitet entfernten wir uns, um noch die übrigen vorhandenen Kranken zu besuchen und ihnen Hülfe zu bringen. Dieselben Scenen wiederholten sich in den meisten Hütten. Wir fanden fast überall dieses grauenhafte Gemisch von Hunger und Krankheit, von Noth und Fieber, von Schmutz und Elend. Kinder und Greise, Männer und Frauen, sterbende und nur leicht Erkrankte lagen in ein und demselben mephitischen und durch Unreinlichkeit verpesteten Raume, der noch häufig nebenbei zum Viehstall diente und bald von einer brüllenden Kuh, bald von einem grunzenden Schwein getheilt wurde. Kein Fenster konnte geöffnet werden, um frische Luft hineinzulassen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Fenster nur aus einer einzigen, fest eingefügten Scheibe bestehen. Auf dem Heerde und in dem Ofen brannte trotz der empfindlichen Kälte kein Feuer, und die meisten Kranken zitterten vor Frost unter ihrer dünnen Decke von Lumpen. Die Wenigen, welche von der Epidemie verschont geblieben waren, erschienen uns halb verhungert, vollkommen apathisch und außer Stande, den Kranken zu helfen. Ueberall herrschte ein Jammer, der sich nicht beschreiben läßt, und ein Elend, das alle Begriffe überstieg. Mehr als einmal traten meinem jüngeren Collegen, die Thränen in die Augen, und obgleich ich an ein derartiges Schauspiel schon mehr gewohnt war, so wurde ich doch nicht weniger tief davon ergriffen.

„Ist es möglich,“ rief mein Begleiter erschüttert aus, „daß so viel Elend über diese armen Menschen kommen kann? Was haben sie gethan, um solche Leiden zu verschulden? Man möchte an der Güte Gottes und an der Weisheit der Vorsehung verzweifeln.“

Angesichts der eben durchlebten schauderhaften Scenen fand ich eine derartige Aeußerung natürlich, obgleich ich anderer Meinung war.

„Solche Prüfungen,“ sagte ich beschwichtigend, „sind oft für den Einzelnen, wie für die Gesammtheit eben so nothwendig, als heilsam. Das Glück und der Wohlstand wiegen uns nur zu häufig in eine geistige Unthätigkeit und geben uns nur selten Gelegenheit, unsere besseren Triebe und Eigenschaften zu entfalten. Zur Zeit der Noth und besonders am Krankenbette zeigt sich die menschliche Natur in ihrem schönsten Lichte. Das Mitleid erwacht, die Opferfähigkeit steigen sich, und eine wohlthätige Erschütterung ergreift uns. Das Herz trägt über den egoistischen Verstand den Sieg davon, und die Humanität feiert ihre schönsten Triumphe. Einen neuen Beleg für meine Behauptung legt diese Typhus-Epidemie selber ab. Sobald der Schrei um Hülfe in den Zeitungen ungeachtet der strengen Censur ertönen durfte, regte sich nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland die lebendigste Theilnahme. Ueberall bildeten sich Vereine, wurden Kleider, Decken und Geld gesammelt, ansehnliche Summen zusammengebracht. Männer aus den höchsten Ständen rissen sich von ihren Familien und aus dem Schooße der Behaglichkeit los, um an Ort und Stelle Erkundigungen einzuziehen, eigene Anschauungen zu gewinnen, wie am schnellsten und am besten zu helfen sei. Diese Männer scheuten weder Mühe noch Anstrengung, fürchteten weder Ansteckung noch den Tod, dem sie zum Theil entgegen gingen. Sind Sie nicht selbst, lieber College, von einem ähnlich edlen Motiv geleitet, hierher geeilt, um mich in meinem schweren Beruf zu unterstützen und den armen Kranken beizustehen? Wir wollen nicht die Vorsehung anklagen, sondern unsere eigene Natur, welche oft zur Erfüllung ihrer Pflicht durch schreckliche Ereignisse aufgerüttelt werden muß.“

Mein junger Freund schien keineswegs überzeugt und schüttelte ungläubig den Kopf. Aus mancher früheren Aeußerung war ich wohl zu dem Glauben berechtigt, daß er, wie so viele jüngere Aerzte, einer materialistischen Weltanschauung huldigte, die jetzt immer mehr um sich zu greifen droht. Ohne mich auf einen philosophischen Streit mit ihm einzulassen, begnügte ich mich lediglich mit einigen Andeutungen, aus dem leider reichen Schatz meiner Erfahrungen geschöpft.

„Glauben Sie mir,“ fuhr ich ruhig fort, „das Krankenbett ist in seiner Art eine hohe Schule nicht nur für den Arzt, sondern auch für den Menschen. Wir lernen daselbst die bessere Natur desselben kennen. Wie viel Aufopferung, Liebe und Hingebung hab’ ich an dieser traurigen Stätte gefunden, welche sich häufig in einen Altar verwandelt und in überirdischer Glorie strahlt! All die Schlacken des Daseins schmilzt oft die Krankheil fort, und es bleibt nur das reine, echte Gold der Menschlichkeit zurück. Der Egoismus verschwindet, der Haß oder die Gleichgültigkeit weichen der besseren Neigung, und das eingewurzelte Vorurheil kann sich nicht länger behaupten. Was bei einem oberflächlichen Anblick als eine Ungerechtigkeit des Schicksals, ein blindes Ungefähr erscheint, erweist sich bei genauerer Prüfung als eine Wohlthat, als das höhere Walten einer göttlichen Vorsehung.“

Während wir in dieser Weise unsere Gedanken austauschten, an die nächsten Erscheinungen anknüpfend, gelangten wir allmählich zu der Schenke zurück, wo der Wagen unser wartete. Hier fanden wir einen Boten des Gutsherrn, der, von unserer Anwesenheit unterrichtet, uns ersuchen ließ, auf das ihm zugehörige Schloß zu kommen, um einige erkrankte Diener in Augenschein zu nehmen und die nöthigen Anordnungen zu treffen. Ich leistete dieser Einladung um so lieber Folge, da ich zugleich meinen Collegen dem Gutsherrn vorstellen wollte, mit dem er jetzt vielfach in Berührung treten mußte. Das Schloß lag fast am Ende des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe. Trotz der ganghaften Benennung war es nichts mehr und weniger als ein ganz gewöhnliches, zweistöckiges Wohnhaus mit Schindeln gedeckt. Rings herum erstreckten sich die verschiedenen Wirthschaftsgebäude, Ställe und Dienerwohnungen, welche einen großen Hofraum umschlossen. Hier trafen wir den Herrn, welcher von Prodschintzky hieß und als Muster eines echten oberschlesischen Gutsbesitzers gelten konnte. Sein rothes, aufgedunsenes Gesicht, durch einen grauen Schnurrbart geziert, verrieth ein wunderliches Gemisch von Derbheit und Schlauheit, von Rohheit und Gutmüthigkeit. In seinem Benehmen verband er oft die Manieren eines Bauern mir dem aristokratischen Stolz eines Edelmanns aus alter Zeit. Was ihm an Bildung mangelte, ersetzte er durch eine gute Dosis von gesundem Menschenverstand. In der Unterhaltung bemühte er sich zuweilen, den Schimmer einer besseren Lebensart zu zeigen und Reminiscenzen aus der Zeit aufzutischen, wo er sich zuweilen in feinerer Gesellschaft bewegt und den Cavalier gespielt haben mochte. Man sah ihm jedoch den auferlegten Zwang an und hatte ungefähr dieselbe Empfindung wie beim Anblick eines tanzenden Bären. Weit mehr konnte Einem sein natürliches Benehmen gefallen, dem es nicht an einem gewissen humoristischen Anstrich fehlte. Wir trafen diesen Herrn von Prodschintzky mitten unter einem Schwarm von Bettlern und Krüppeln aller Art. Nie glaubte ich eine ähnliche gebrechliche und verkommene Versammlung gesehen zu haben. Die armen Leute hielten in ihren Händen Töpfe, Krüge und oft auch nur Scherben, welche nach der Reihe aus einem großen, dampfenden Kessel mit einer trüben Brühe gefüllt wurden. Diesen Inhalt schlürften sie sogleich gierig nieder, ohne sich erst Zeit zur Abkühlung zu lassen. Außerdem erhielt jeder der Anwesenden noch eine ziemlich große Fleischportion, welche eben so hastig in unserer Gegenwart verzehrt wurde. Ich drückte dem Gutsbesitzer meine Anerkennung für diese Speisung seiner hungernden Angehörigen aus.

„Ist nur Pferdefleisch,“ raunte er mir lachend in’s Ohr.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_803.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)