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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

No. 51.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Christnacht.

Was macht der Arme in dieser Stunde?
Wenn rings die Häuser sich erhellen,
Wenn Glückliche im Herzensbunde
Sich zu einander froh gesellen;
Wenn um den festlich grünen Baum
Sich Kinderschaaren jauchzend drängen,
Und von den Zweigen wie im Traum
Die gold’nen Früchte niederhängen;
Wenn heil’ger Christ in lichten Sälen
Mit reichen Gaben, nicht zu zählen,
Als gütig spendender erscheint:
– Er weint, er weint!

Was macht der Arme in dieser Stunde?
Den auch mit Hoffnungen durchdrungen
Von dem Erlöser jene Kunde,
Die ihm in’s Herz hineingeklungen;
Wenn in der Stube, kalt und eng,
Die Kinder hungrig Brod begehren,
Und er nicht kann als Christgeschenk
Der Brut ihr Futter fromm bescheeren.
Hab’ ich, ein Ausgestoßner, Böser,
An meinem göttlichen Erlöser
Statt eines Helfers einen Feind?
– Er weint, er weint!

Was macht der Arme in dieser Stunde?
Die Mutter sitzt beim Kind’ am Bette,
Gebete zieh’n aus ihrem Munde
Mit Wiegenliedern um die Wette;
Sie denkt nicht an die helle Pracht,
Die wie ein Strom, der ausgetreten,
Sich leuchtend hinwälzt durch die Nacht;
Sie glaubt und hört nicht auf zu beten:
„Gieb Du, o Herr, dem kranken Kinde
Ein segenreiches Angebinde,
Wie immer Deine Huld es meint“ –
– Er weint, er weint!

Was macht der Arme in dieser Stunde?
O daß ihn Lindrung überkäme,
Daß jede Schuld und jede Wunde
Von ihm ein starker Tröster nähme!
O würde ihm ein frommer Christ
Vermittelnd hülfreich zugesendet,
Der sanft von ihm zu dieser Frist
Das angeerbte Uebel wendet,
Damit er ohne Neid und Grauen
In alle Fenster könnte schauen,
Mit Glücklichen versöhnt, vereint –
– Er weint, er weint!

Paris.

Sigmund Kolisch.


Auf Regen folgt Sonnenschein.

Aus dem Tagebuche eines Arztes.

Während der großen Typhus-Epidemie, welche im Jahre 1847 in Oberschlesien wüthete, lebte ich als Arzt daselbst in einer mittleren Kreisstadt. Als solcher erhielt ich von Seiten der Regierung den Auftrag, die Behandlung mehrerer benachbarter von der Krankheit heimgesuchter Dörfer zu übernehmen. Bald reichte indeß meine eigene Kraft nicht mehr aus, und ich sah mich genöthigt, um Unterstützung zu bitten. Dieselbe wurde mir in der Person eines jungen Mediciners gewährt, der erst seit kurzer Zeit die Universität verlassen hatte und in die Praxis getreten war. Bei der ersten Nachricht von jener furchtbaren Epidemie war der Doctor Brand herbeigeeilt und hatte freiwillig, wie so viele tüchtige Männer, sich zu der keineswegs gefahr- und mühelosen Stellung gemeldet. Er wurde natürlich nicht zurückgewiesen und mir zugetheilt, um mich in meinem schweren Berufe zu unterstützen. Mit Freuden empfing ich den frischen, jugendlichen Gehülfen, um so mehr, da ich nach einer kurzen Unterhaltung schon an ihm eine tüchtige wissenschaftliche Bildung, mit vieler Bescheidenheit verbunden, entdeckte. Er war voll Eifer und von der größten Liebe für seine Kunst und für die leidende Menschheit erfüllt; deren bedurfte es aber mehr als je in jener für mich so schrecklichen, aber unvergeßlichen Periode.

Ich hatte die Pflicht, meinen Collegen in seinen neuen Wirkungskreis einzuführen und ihn mit den eigenthümlichen Verhältnissen der Epidemie und der Kranken bekannt zu machen. Dies

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 801. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_801.jpg&oldid=- (Version vom 30.11.2019)