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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

und den anderen Soldaten des Continents muß ich doch anerkennen: es ist etwas mehr von der Nation in ihm, es ist etwas mehr von ihm in der Nation, und so sind das Heer und die Nation mehr mit einander verwachsen, was freilich weit mehr dem Heere als der Nation zum Lobe gereicht. In den Ländern, wo stehende Heere zu den Staatsbedürfnissen zählen, macht das goldene Portecépée hoffähig; in Frankreich ist man hoffähig ohne Officiersrock, ohne jeden Rang, ohne jede sociale Bevorrechtung. Der Kaiser Napoleon hat sich selber einen Emporkömmling genannt; wer sollte für unwürdig erkannt werden, am Hofe eines Emporkömmlings zu erscheinen? Der Officiersrock hat also vor dem schwarzen Frack nicht viel, wenigstens das nicht voraus, worauf anderwärts der dem Bürgerstand entwachsene Wehrmann besonderen Werth legt.

Auf einer Reise nach Rom sah ich zu Civita-Vecchia an einer Wirthstafel einen französischen Obristen mehrere seiner Untergebenen bewirthen und zwei Sergeanten, die mit zur Gesellschaft gehörten, mit einer Zuvorkommenheit behandeln, von der sich die Weltweisheit eines preußischen Lieutenants nichts träumen läßr. Noch mehr als die Liebenswürdigkeit des Obristen gefiel mir die Unbefangenheit der Sergeanten, mit welcher sie, ebenso entfernt von Selbstüberhebung wie Kriecherei, die Freundlichkeiten ihres Vorgesetzten hinnahmen. Derselbe Geist geht durch alle Classen der französischen Gesellschaft und trat mir recht auffallend in der „Messe“ entgegen.

Wie den Franzosen vor anderen Nationen am allerwesentlichsten seine geselligen Fähigkeiten, ich möchte fast sagen, seine gesellige Tugend auszeichnet, so mildert insbesondere diese französische Eigenheit den militärischen Sondergeist, der anderwärts so unerquicklich, nicht selten empörend auftritt. Es blieb mir ganz behaglich zu Muthe, als ich an der Seite meines Führers in diese nach so vielen Seiten hin fremde Gesellschaft von mehr als 150 Officieren trat, die mir fast ganz fremd war, und von der mich die völlige Verschiedenheit des Denkens und Empfindens, des Wollens und des Strebens so weit abhält: nichts von dem stolzen Dünkel, der auf hohen Stelzen einherschreitet und auf Jeden, wie hoch er auch stehen mag, nach unten guckt, machte sich bemerkbar. In den Blicken Aller sprach sich die freundliche Begrüßung des eingeführten Fremden und der Wunsch aus, ihm angenehm, ihm gefällig zu sein; obgleich man sich fern hielt, zeigte man sich doch wie zu mir gehörend, mit mir in Verbindung.

Jede Woche ist da großer, glänzender Empfang: da spielt die Musikbande, da kommen Frauen und Mädchen, die den Officieren vermählt, verwandt oder befreundet sind, und für die ein besonderer Speisesaal eingerichtet ist; denn an die Officierstafel werden sie nicht zugelassen, weil man von der tiefen Wahrheit des spanischen Sprüchwortes: „quien es ella? – wer ist sie?“[1] durchdrungen ist und fürchtet, daß die vertrauliche Nähe der Frauen Streit und Hader unter den reizbaren, in tödtlichen Waffen geübten Kriegsleuten herbeiführen würde. Alles ist in großer Gala; die Aufwärter, aus gemeinen Soldaten bestehend, sonst in Civil, sind an diesem Tage in Uniform; die Gänge der Speisen sind vermehrt, die Weine üppiger, das Tafelgeschirr reicher, vornehmer, kurz, Alles ist festlich geschmückt, auch die allgemeine Stimmung. Eine Glocke ruft zu Tische, die Geladenen sitzen neben denen, von welchen sie geladen wurden; es ist ein Gebot der Höflichkeit, daß man seinem Gaste mit Wein von ausnahmsweiser Qualität aufwartet; in diesem Falle muß nach der Regel des Hauses dem zweiten Nachbar des Fremden von dem köstlichen Getränke auch kredenzt werden, wahrscheinlich um auf diese Weise den Gast mit einem Dritten in Berührung zu bringen und einen Anknüpfungspunkt mehr zwischen ihm und der Gesellschaft herzustellen.

Die Speisen, selbst an gewöhnlichen Tagen, sind trefflich bereitet und reichlich geboten. Jeder kann von dem Aufwärter so oft verlangen, als es sein Appetit erheischt. Von dem Grundsatz des Heerführers einer älteren Zeit, daß eine Katze und ein Soldat entweder ausgehungert oder gut genährt sein müssen, um für ihren Beruf zu taugen, hat Ludwig Napoleon offenbar den zweiten Theil angenommen: nie war eine Armee besser, nie vielleicht so vortrefflich versorgt und verpflegt, nie in dem Maße mit Allem versehen, was zur Erleichterung und Bequemlichkeit dienen kann, wie die Armee des zweiten Kaiserreiches. Ludwig Napoleon hat den Thron aus den Händen der Armee erhalten; was ist natürlicher, als daß er Alles aufbietet, um sich die Gunst dieser Machtverleiher zu bewahren! Die Wohlgesinnten und Scharfblickenden schreien über diese Begünstigung, welche aus der Armee einen Staat im Staate macht, oder gar einen Staat gegen den Staat, sie beklagen den Verlust des Einflusses der Revolution von 1789 und des Bürgerkönigthums von 1830, die Alles bürgerlich zu machen wußten, selbst den Soldaten; denn wenn auch die Tratition, sagen sie, welche den Soltaten mit dem Bürger vereinigt, bis jetzt noch einige Gewalt behält, so steht zu fürchten, daß die Angewöhnung im entgegengesetzten Sinne vernichten möchte, was der Tratition an Kraft übrig bleibt.

Der französische Soltat bezeichnet den Bürger mit dem Spottnamen „Pekin“, und der Bürgerliche nennt den gewöhnlichen Soldaten zu Fuß zum Hohne „Piou-Piou“ – allein der Hohn liegt im französischen Charakter, und das stechendste Witzwort verletzt nicht, es wird mit derselben Leichtigkeit hingenommen wie abgeschnellt, und wenn sich Soldat und Bürger auch gegenseitig über einander lustig machen, so vertragen sie sich bis jetzt doch noch ganz leidlich. Damit der französische Soltat leichten Herzens auf den Bürger ziele, muß er all’ seine Erkenntniß in Absynth ersäuft haben; der Absynth kann also Regierungsnothwendigkeit werden!

Die Kosten der gemeinsamen Tafel werden nach dem Saint Simonistischen Grundsatze: „Jeder nach seinem Bedürfniß, von Jedem nach seinem Vermögen“ bestritten, d. h. mit andern Worten: Jeder zahlt nach Maßgabe seiner Einnahme und ißt nach Maßgabe seines Appetits, so daß der ältere Obristlieutenant, welcher offenbar nicht so viel an Speise vertragen und verdauen kann, doppelt so viel zahlt, als der Unterlieutenant, dessen Magen in der heißesten Schlacht nicht wankt. Das geringste Kostgeld sind 2 Franken 5 Sous per Tag. Die heitere Laune an der Tafel wird lediglich durch den Anstand begrenzt; kein lästiges Ansehen irgend eines Vorgesetzten legt sich bleiern auf die Schwingen des Verkehrs. Zwei Officiere, welche zu spät zum Essen kamen, wurden, als sie in den Saal traten, von der Gesellschaft mit donnerndem Hohngelächter und Zischen empfangen, ohne daß der Präsident auch nur im Entferntesten Miene gemacht hätte, diesem etwas ausgelassenen Scherz entgegenzutreten.

Die Gespräche an der Tafel sowohl, als vor und nach dem Essen, drehten sich um Dinge geringer Bedeutung, um Nichtigkeiten, die nicht würdig sind, den Sinn eines Mannes zu beschäftigen. Von Vielen wurden Kleidungsangelegenheiten mit solcher Umständlichkeit besprochen und gewannen in dem Maße Aufmerksamkeit und Theilnahme, daß ich mich unter Frauen zu befinden glaubte, und zwar unter solchen Frauen, für die es keine höhere Lebensfrage giebt, als die Toilette. Sehr lebhaft interessirten sich Alle für eine neue Uniform, welche der Garde nach Angabe des Kaisers selbst bevorstand, und als ein Mann, von dem Regimentsschneider abgesendet, ein Muster dieser neuen Bekleidung auf dem Leibe, in den Saal kam: da waren Alle von der Erscheinung wie ergriffen, da war des Schauens und Betrachtens, des Besprechens und Beurtheilens kein Ende. Der grüne Rock mit gelben Schnüren an der Brust, den der Mann vorführte, ist seither Gegenstand des Volksspottes und des Witzes der Lachblätter geworden, von den Officieren aber hat es kein einziger gewagt, dem allerhöchsten Geschmacke, nach welchem das Kleid gefertigt war, laut zu nahe zu treten, die unabhängigeren lobten weniger oder schwiegen.

Wir befanden uns in der an den Speisesaal stoßenden Rauchstube, als auf meinen Freund einer seiner Cameraden mit wichtiger Miene zukam.

„Lieutenant L.,“ sagte er ihm, „der Oberlieutenant C. ist sehr heftig gegen Dich aufgebracht!“

„Gegen mich?“ rief verdutzt mein Führer, „und weshalb?“

„Weil Du Dich, wie er sagt, rücksichtslos gegen seine Frau benommen, indem Du in einer Waggonabtheilung, in welcher auch sie sich befand, mit einer Dame von unklarer Beziehung zu Dir conversirt hättest.“

„Ich habe nicht gewußt, daß ich die Frau Lieutenant C. selbst auf neutralem Gebiet um jeden Preis vermeiden müsse! Uebrigens,“ setzte er mit einiger Heftigkeit hinzu, „mag der Lieutenant C. die Sache nehmen, wie er will.“

Nach einer Minute hörte man bereits in verschiedenen Gruppen

  1. Die Spanier wollen mit diesem Sprüchwort andeuten, daß hinter allen wichtigen Vorfällen und Ereignissen ein Frauenzimmer steckt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_794.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)