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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)


in ihm kämpfte etwas, freilich wohl ganz etwas Anderes, als in dem zerrissenen Herzen seines Untergebenen, und doch wohl wieder etwas Aehnliches, wenigstens ein lebendiges Gefühl mit einem starren Princip. Das Gefühl schien zu siegen. Es war immer ein eigenthümliches Gefühl.

„Herr Director,“ sagte er, „Sie waren bisher manchmal in Geldverlegenheit. Es ist bekannt. Ich weiß aber auch, daß Sie nicht, mindestens nicht allein die Schuld tragen. Ihre häufigen Versetzungen haben Sie nothwendig in Schulden stürzen müssen. Ihre zahlreiche Familie, Krankheit, Anderes kam hinzu. Die Geldverlegenheit kann sich zur Noth steigern. In der Noth greift der Mensch manchmal zu Mitteln – das Mosersche Geld war erst in sechs Wochen fällig –“

Der Präsident sprach ruhig. Er war stehen geblieben, und auch der Director hatte seine Schritte gehemmt. Beide standen vor einander. Der Präsident sah den Director fest an. Der Director hatte die Augen zu Boden geschlagen. Auf einmal erhob er sie.

„Nein –“ rief er. Er wollte das Wort wiederholen. Er wollte seine Gestalt erheben, in dem Bewußtsein, in dem Stolze seiner Unschuld, seiner Ehre gegen den entsetzlichen, so ernst ihm gemachten Vorwurf des Diebstahls. Das Wort erstarb ihm auf den Lippen, seine Gestalt sank gebrochen zusammen.

„Unglücklicher, wen wolltest du anklagen?“ rief es in ihm.

Der Präsident warf einen ahnenden Blick auf ihn. Der erfahrene Beamte, der vornehme Weltmann, der noch mehr als der Beamte Gelegenheit gehabt hatte, Menschen und Zustände kennen zu lernen, hatte wohl einen seinen, sicheren Blick gewinnen können.

„Sie haben keine Antwort?“ fragte er.

Der Director hatte keine Antwort. Der Präsident sah ihn strenger an.

„Herr Director, erwägen Sie Ihre Lage. Sie ist eine einfache. Sie bleiben, wie die Sachen einmal stehen, der Unterschlagung der Gelder dringend verdächtig. Die Gründe des Verdachts habe ich Ihnen angedeutet. Sie sind auch ein zu guter Jurist, als daß sie Ihnen entgehen könnten. Niemand, kein Richter, würde der Behauptung eines Versehens, Verlierens oder einem ähnlichen Vorwande glauben können. Allerdings würde kein ausreichender Beweis vorliegen, um Sie zu einer Criminalstrafe zu verurtheilen. Aber daß Sie nie daran denken könnten, Präsident zu werden, daß man Sie nicht einmal auf Ihrem gegenwärtigen Dirigentenposten würde belassen können, das Alles müssen Sie eben sowohl sich selbst sagen, als meine Pflicht von mir fordert, es Ihnen vorzuhalten. Nur wenn Sie einen anderen Schuldigen bringen könnten, wären Sie gerettet, könnte Ihnen für Ihre Carriere eine glänzende Zukunft bleiben. Entscheiden Sie sich jetzt über die Antwort, die Sie mir zu geben haben. – Doch nein, entscheiden Sie sich nicht sofort. Ihre Antwort ist eine Entscheidung über Ihr Leben. Sie bedürfen einer ruhigen Ueberlegung, eines klaren Entschlusses dazu. Kopf und Herz sind Ihnen in diesem Augenblick nicht frei. Sammeln Sie sich, gehen Sie zu Rathe mit sich, oder mit wem Sie sonst müssen. Ich begebe mich in den Gasthof. Ich erwarte Sie dort, in einer Stunde, in zwei Stunden, auch bis morgen früh, wenn Sie wollen. Ich werde die Nacht hier bleiben.“

Damit entfernte sich der Präsident. Er war in der That ein Ehrenmann, dieser Freiherr von Senkendorf, wenn auch mit theilweise sonderbaren Ansichten von Ehre.

Der Director blieb vernichtet. Seine Lage war ihm klar von dem Präsidenten hingestellt. Er mußte einen andern Schuldigen bringen können, oder er war verloren; am Ziele seiner Träume, seiner Wünsche, seines Ehrgeizes, aller seiner Mühen, Arbeiten und Entbehrungen verloren. Er hatte das Ziel schon erreicht, gerade heute; es sollte ihm gerade heute wieder entrissen werden. Nicht das allein; er sollte nicht einmal bleiben, was er war. Er konnte auch das nicht, er wußte es wohl. Ein untergeordneter Posten in irgend einem kleinen, entlegenen Orte, wo er völlig unbekannt war, das war nur noch sein Loos. So war es mit anderen Beamten in ähnlichen Fällen gehalten worden, und sie hatten es noch als eine besondere Begünstigung ansehen müssen. Und er war der stolze, ehrgeizige Mann, der Director Heilsberg! Und er konnte mit einem Worte, mit einem einzigen Namen das Alles von sich abwenden, seine Ehre hoch und aufrecht erhalten, morgen Präsident sein, das Ziel seines Lebens fest ergreifen und für alle Zeit fest halten!

Er verließ das Gericht. Er kehrte nach seiner Wohnung zurück, zu seiner Gattin, zu seinen Kindern, auch zu der unglücklichen Emilie. Es war zwei Uhr Nachmittags, als er ankam. Er hatte sie um acht Uhr Morgens verlassen und war seitdem nicht wieder da gewesen. Es war heute sein Geburtstag.


4.

Er traf Mutter und Tochter allein, in ihren Sorgen, in ihrem Gram. Er entfernte die Tochter und war mit seiner Gattin allein, mit dem Weibe, die er über Alles liebte, die ihn über Alles liebte, die sein Glück, sein Leben war, und die heute sein Glück und sein Leben vernichtet hatte. Das Herz zog sich ihm krampfhaft zusammen bei dem Gedanken, und doch hatte er keinen anderen Gedanken. Und mit ihm mußte er als Richter, als strenger Richter vor sie treten. Konnte er anders? Er war äußerlich gefaßt, ruhig, kalt.

„Setzen wir uns, Mathilde,“ sagte er. „Ich habe mit Dir zu sprechen.“

Sie war bei seinem Eintreten aufgestanden. Sie ließ sich wieder auf dem Stuhle nieder, den sie verlassen hatte, und er nahm den Stuhl, auf dem Emilie gesessen hatte. Sie hatte bebend, selbst leichenblaß, in sein leichenblasses Gesicht geblickt, seine Bewegungen verfolgt. Sie hatten Beide kein Wort gesprochen.

„Mathilde,“ hob er an, und die Brust keuchte ihm, wie viele Gewalt er auch über sich hatte – „Mathilde, es fehlt Geld im Gerichte. Weißt Du davon? Sprich Ja oder Nein; weiter nichts.“

Er sah sie fest an. Sie hatte die Augen niedergeschlagen. Aber sie erhob sie wieder; sie mußte sie zu ihm erheben, wie für das, was sie zu antworten hatte, unwillkürlich Schutz suchend, bei dem Manne, der so lange ihr Schutz und Schirm gewesen war.

„Ja,“ sagte sie dann leise, mit bebender Stimme, mit wogender Brust.

„Und?“ fragte er rasch.

„Ich habe das Geld genommen.“

„Du hast uns unglücklich gemacht.“

Die Worte stieß er noch schnell hervor. Sie zeigten das ganze entsetzliche Gefühl seines Unglücks. Dann sprang er auf. Er wollte das Zimmer verlassen, denn er mußte allein sein, um zu beschließen, was nun weiter zu thun sei. Aber seine Gattin, die Schuldige, aber auch das Weib, die ihn über Alles liebte, hatte in ihrer Schuld mit in ihrem liebenden Herzen schon erkannt, was zu thun sei. Sie hatte sich mit ihm erhoben und eilte ihm nach, sie ergriff seine Hand und hielt ihn zurück.

„Adalbert,“ schrie sie, und sie sah ihn voll und klar an, „mich allein, die Schuldige, treffe das Unglück. Mein Entschluß steht fest. Erzähle mir, was sich heute zugetragen hat, damit ich ihn ausführen kann.“

Er war stehen geblieben. Er sah finster vor sich hin. Das Gefühl seines Unglücks lastete zermalmend, vernichtend auf ihm. Es war ihm zugleich ein Bedürfniß, Alles zu wissen, was sich zugetragen hatte.

„Erzähle Du mir zuerst,“ sagte er.

„Es soll geschehen, komm.“

Sie führte ihn an ihrer Hand zu seinem Sitze zurück und setzte sich ihm gegenüber. In ihrem Unglücke, und sie war gewiß in diesem Augenblicke unglücklicher als er, hatte sie auf einmal eine wunderbare Klarheit des Geistes, und in dieser einen großen festen Entschluß gewonnen. Sie war ein schuldiges, aber liebendes Weib.

(Fortsetzung folgt.)
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