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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

erhalten hatte, daß auch ihr Vater Präsident geworden sei? Was wollte er bei ihrem Vater, mit dem er sich im Gerichte eingeschlossen hatte? Das Herz hofft immer. Sollte auch sie hoffen, doch noch hoffen dürfen? Die Mutter mußte ihr auch die letzte Hoffnung nehmen.

„Nein, mein Kind,“ sagte sie, „die Ankunft des Präsidenten hat keinen Bezug auf Deine Angelegenheit. Sie betrifft etwas ganz Anderes.“ Sie hatte in einem so eigenthümlichen Tone gesprochen.

„Du weißt, was es ist, Mutter?“ fragte die Tochter.

„Ich fürchte es, und – “

Die Tochter hatte die Mutter angesehen. Jener Ton hatte sie aufmerksam gemacht. Sie sah, was sie den ganzen Tag nicht gesehen oder was sie für Theilnahme und Angst des Mutterherzens gehalten hatte; sie sah die schwerste, die entsetzlichste eigene Angst der unglücklichen Frau. Diese Angst mußte mit der plötzlichen Ankunft des Präsidenten in Verbindung stehen. Sie konnte nicht daran zweifeln. Sie erschrak heftig. Was war da wieder? War es nicht genug an ihrem Unglücke? Und sollte, mußte gerade heute Alles zusammentreffen, an dem Geburtstage des Vaters, den sie Alle so liebten, an dem Tage, den sie sich als ihren schönsten Freudentag gedacht hatten, der auch einen so freundlichen, fröhlichen, glücklichen Anfang genommen hatte?

„Mutter, es ist noch ein Unglück da,“ rief die Tochter, „theile es mir mit.“

„Ja, mein Kind, es ist noch ein Unglück da, und es ist das größte, das schwerste. Dein armes Herz – o, ich fühle, wie es leidet, wie es Dir bis in das Innerste verwundet, wie es gebrochen ist. Aber nicht Deine Ehre, nicht unsere, nicht Deines edlen Vaters Ehre ist angegriffen –“ Sie konnte nicht weiter sprechen.

„Und was den Präsidenten herführt,“ fragte die bebende Tochter, „greift unsere, greift des Vaters Ehre an?“

„Nein, nein,“ wehrte die Frau ab, „nicht Eure, nicht Eure, nur meine – aber ist denn die Schande der Mutter nicht die Schande des ganzes Hauses?“ Sie sprach in Verzweiflung.

„Erzähle, Mutter,“ flehete die Tochter.

Die Mutter hatte ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt. Sie enthüllte es, um zu erzählen. Sie mußte es wieder bedecken, mit einem lauten, furchtbaren Schrei.

Die Thür des Zimmers hatte sich geöffnet. Der Director Heilsberg war eingetreten, der Gatte, der Vater; langsam, gebeugt, das Gesicht bleich, entstellt. Der kräftige, stolze Mann des Morgens war nicht mehr zu erkennen. Konnte dieser Mann noch einen Ehrgeiz haben? Waren ihm heute, vor wenigen Stunden, die stolzesten Träume des Ehrgeizes zur Wahrheit geworden? Man sah nur einen innerlich gebrochenen, für immer vernichteten Mann. Und dem vernichteten Manne konnte die Gattin nicht ihr Gesicht zeigen. Sie mußte es verdecken, in ihre beiden Hände pressen; ein lauter Angstschrei mußte dem zum Tode gedrückten Herzen Luft schaffen. Der Director wandte sich an seine Tochter. Seine Stimme sollte eine milde gegen das arme Kind sein; sie konnte nur tonlos bleiben.

„Verlasse uns, Emilie,“ sagte er. „Ich komme später zu Dir. Ich kenne Dein Unglück. Ich bringe Dir keinen Trost, aber ich werde es Dir tragen helfen. Gehe jetzt in Dein Zimmer. Ich suche Dich nachher darin auf.“

„Vater, was hast Du selbst?“ fragte das arme Kind wohl noch, wie sie vorhin hatte die Mutter fragen müssen. „Du mußt ja an einem größeren Unglücke tragen, als ich.“

Aber er sah sie so sonderbar an. „Ich bitte Dich, Emilie, gehe jetzt.“ Er sprach es mit einer Stimme, der man das innere Schluchzen des Mannes anhörte.

Das Kind entfernte sich still. Indem er ihr nachsah, mußte er eine Thräne aus den Augen drücken. Was mußte dem starken Manne begegnet sein?


3.

Der Director Heilsberg war am Morgen, wie gewöhnlich, zum Gerichte gekommen. Er hatte sich nur um wenige Minuten verspätet. Es war ja heute sein Geburtstag, und die Beamten des Gerichts wußten das. Sie durften ihm freilich nicht dazu gratuliren; die Stellung der Untergebenen zu dem Vorgesetzten hielt sie zu weit von ihm entfernt, als daß sie Ereignisse in seiner Familie gegen ihn hätten berühren dürfen, wenn er nicht selbst durch eine Mittheilung ihnen entgegenkam.

Aber über etwas Anderes durften sie sich gegen ihn aussprechen. Es war ja, in erster Linie wenigstens, eine amtliche Angelegenheit. Einer von ihnen hatte gleichfalls soeben ein Schreiben aus der Residenz erhalten, von einem Freunde aus dem Ministerium, der ihm mittheilte, daß der Director Präsident geworden sei. Er hatte das wichtige Ereigniß sofort den anderen Beamten des Gerichts weiter mitgetheilt. Alle liebten sie den Director, der ihnen ein humaner, wohlwollender Vorgesetzter war. Es war ihnen ein Bedürfniß, ihm, unter Vorbehalt der späteren officiellen, feierlichen Beglückwünsckung, sofort die Glückwünsche ihres Herzens auszusprechen. Sie hatten sich dazu vereinigt und wollten ihn damit empfangen.

Da trat er ihnen mit dem finstersten, strengsten Gesichte entgegen, das sie jemals an ihm gesehen hatten. Sie konnten kaum wenige Worte vorbringen; er nahm fast keine Notiz davon und befahl sofort dem Rendanten des Gerichtsdepositoriums, ihm in sein Zimmer zu folgen. Er bestürmte ihn hastig mit Fragen.

„Hat der Amtmann Moser in Neudorf kürzlich Geld eingezahlt?“

„Nein, Herr Director.“

„Sollte er Zahlungen leisten?“

„So viel ich weiß, hat er Kaufgelder einer Wiese für seine Stieftochter einzuzahlen.“

„Mit wie viel?“

„Mit hundert Thalern.“

„Gerade hundert Thaler?“

„Es ist die runde Summe; ich erinnere mich genau.“

„Und das Geld ist nicht eingezahlt? Sie wissen es bestimmt?“

„Ich weiß es bestimmt. Es könnte auch nicht wohl eingegangen sein, da es, wie ich ebenfalls genau weiß, erst in sechs Wochen fällig ist.“

„Das Geld soll schon vor vier Wochen eingegangen sein.“

„Es ist nicht möglich.“

„Lesen Sie. Moser hat sich beim Obergerichte beschwert, daß er noch keine Quittung erhalten habe. Mein Freund, der Obergerichtsrath Heine, benachrichtigt mich davon.“

Er übergab dem Rendanten den zweiten Brief, den ihm beim Kaffee der Gerichtsdiener gebracht hatte. Der Rendant las den Brief. Er war ein alter, ehrlicher, etwas ängstlicher Beamter. Er schüttelte den Kopf und wurde unruhig.

„Es steht in dem Briefe,“ sagte er. „Moser will das Geld mit der Post eingesandt haben. Aber es kann hier nicht angekommen sein. Es ist nicht möglich.“

Er bat dennoch um die Erlaubniß, seine Bücher und Register nachsehen zu dürfen.

„Sehen wir zusammen nach,“ sagte der Director, der unruhiger und sorgenvoller geworden war, als der alte Rendant.

Sie begaben sich in das Bureau des Rendanten und sahen dessen sämmtliche Bücher, Register, Controlen nach. Keine Spur von hundert Thalern, die der Amtmann Moser eingezahlt hätte. Keine Spur eines Schreibens, mit dem sie eingesendet wären. Die Unruhe der beiden Beamten vermehrte sich.

„Ich gehe zur Post,“ sagte der Rendant, „um mich dort zu erkundigen. Ist das Geld mit der Post angekommen, so muß es dort in die Bücher eingetragen sein, und man muß die Quittung des Gerichtsbeamten haben, der es in Empfang genommen hat.“

„Gehen Sie,“ bat ihn der Director.

Er selbst begab sich unterdeß zu dem Rendanten der Salariencasse, um nachzusehen, ob das Geld nicht etwa aus Versehen an diese Casse abgegeben sei. Auch hier war kein Pfennig von dem Amtmann Moser eingezahlt, keine Zeile, die darüber sprach.

Der Depositalrendant kam von der Post zurück. Er sah bestürzt aus.

„Herr Director, das Geld ist angekommen.“

„Auf der Post?“

„Auf der Post, am zwölften des vorigen Monats, – gerade hundert Thaler, in Kassenanweisungen, die in einem Briefe gelegen haben.“

„Und wer hat darüber quittirt?“

„Der Herr Director selbst.“

Der Director zog das weiß gewordene Gesicht finsterer zusammen. „Ich selbst?“ preßte er hervor, mehr für sich, als zu dem Rendanten.

„Ich habe die Quittung gesehen,“ sagte der alte Beamte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_786.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)