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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Natürlich sind jene von weit leichterer Bauart, improvisirte hölzerne Nomadenhütten, deren Dächer oft mit Steinen beschwert sind, um der Gewalt der Stürme besser zu widerstehen. Sie haben in der Regel nur ein einziges Zimmer, an dessen Wänden hölzerne Bänke umherlaufen und welches mit einem ebenso stattlichen wie nützlichen Kachelofen geschmückt und mit den verschiedensten Geräthschaften auf Topf- und Zinnbretern an den Wänden ausgestattet ist.

Die Winterbauden machen einen bei weitem ansehnlicheren Eindruck. Sie bestehen alle aus der eigentlichen Wohnung und dem Stalle, zwei gesonderten Hälften für die zwei- und vierfüßigen Insassen. Ein schmaler Gang, in den man sogleich durch die Hausthüre eintritt, trennt die mit Vernunft begabten Wesen von den Geschöpfen, welche nur der Instinct beherrscht. Die Wohnung enthält ein größeres und ein kleineres Zimmer. In jenem befindet sich der Kachel- und Backofen; es ist die Familienheimath, wo nicht nur gekocht und gebraten wird, wo auch die künftigen Urwähler und Landwehrmänner Schlesiens, die künftigen, der Gesammtmonarchie einverleibten Nachkommen Przemysl’s in Hemdchen am warmen Ofen kauern oder aus der Wiege schreiend ihre Aermchen hervorstrecken, wo alle Vorkommnisse des Familienlebens sich abspielen, wo alle Neuigkeiten des Gebirges Abends bei dem Scheine der Buchenholzfackeln besprochen werden! Ein zweites kleineres Zimmer ist die eigentliche Gaststube, in welche man die Reisenden führt und welche in den größeren Bauden nicht ohne Bequemlichkeit eingerichtet ist. Gegenüber der Wohnstube ist nun der Stall, meistens sehr sauber gehalten als das Allerheiligste der Baudenwirthschaft. Ein reisender Potter kann hier höchst bequem das Thierreich in allen seinen Eigenheiten belauschen und auf die Leinwand zaubern. Der Hausflur selbst führt in den nach der Bergseite zu gelegenen und von frischem Quellwasser gekühlten Milchkeller. Oben ist der Heuboden mit einigen Verschlagen und Bodenkammern. Schlafstellen und Schlafgemächern für das Gesinde und für Reisende. Das Heu bildet hier nicht nur das aromatische Lager, sondern auch die Decorationen, indem man zwischen seinen festgeschichteten Wänden hindurchwandelt. Die Bauden sind alle auf einem einfachen steinernen Unterbau aufgeführt, im Uebrigen aber aus vierseitig behauenen, übereinander ruhenden Baumstämmen zusammengezimmert; nur einige der neueren, mehr hotelartigen Banden haben steinerne Wände. Das Schindeldach läuft tief herunter; auch die Wetterseite ist mit Schindeln belegt, deren wärmende Wirkung für den Winter noch durch Moos und Tannenreisig verstärkt wird. In diesen Nomadenhütten und Hotels des Gebirges hat die Sommeridylle ihre poetischen Reize; das Winterleben dagegen ist von einer Oede und Einsamkeit, welche, gegen die Verlassenheit einer lappländischen oder grönländischen Polarlandschaft nicht zurücksteht. Wohl fehlt es gerade im Winter, sowohl bei Sonnen- als Mondbeleuchtung, nicht an dem wunderbarsten Farbenspiele, indem die von Süden heraufleuchtende Sonne die hohen Bergeszinnen in einen rosigen Schimmer taucht, der über den stets in Schatten begrabenen Nordabhängen schwebt, oder indem der Mond durch den Nebelflor der Nacht hindurch einzelne Stellen, über denen er gerade dahinwandelt, wie einen blitzenden Diamantschmuck erhellt! Doch, oft müssen die verschneiten Bewohner der Baude sich erst aus den Schneemassen, aus denen nur der Dachgiebel hervorragt, mühsam herausgraben, um überhaupt einen freien Blick auf Himmel und Erde zu gewinnen! Und wie beschwerlich ist die Wanderung von einer Baude zur andern, der gesellschaftliche Verkehr dieser von Schnee ummauerten Einsiedeleien! Rings liegt der Schnee sechs, zehn bis zwanzig Fuß hoch! Der Wanderer muß sich den Schneereifen unterbinden, einen mit Hanfschnüren durchflochtenen Holzreifen, der vor dem Einsinken in die lockeren Massen schützt. Und welche Gefahren drohen ihm auch dann noch von den zusammenstürzenden Schneewänden in den Hochschluchten oder von den Schneebrücken, welche, unterhöhlt von wühlenden, tosenden Gebirgsbächen, in der Luft schweben, oder von den Schneelehnen, wie sie sich oft von den Rändern des großen und kleinen Teiches loslösen und mit donnerndem Krachen auf die zugefrorne Eisfläche herabstürzen, daß die herausgeschlagenen Schollen sich zerborsten übereinander thürmen! Wie bedrohlich sind die Schneenebel und Schneewirbel, welche die den Weg oder mindestens die Richtung anzeigenden ausgesteckten Stangen verbergen! Schon Mancher hat sich in den zweifelhaften Schutz eines der Felsungethüme geflüchtet, welche einzelne Punkte des Kammes bezeichnen, und ist hier vor Hunger und Kälte zu Grunde gegangen und eine Beute des Raubgevögels geworden. In dieser Zeit pocht selten ein Gast an die Thüre der Bauden, ein Jäger, ein Waldarbeiter, ein Holzschläger und Zurücker, welche letztere mit ihren Hörnerschlitten das Holz, das sie als „Schleppe“ an dieselben festbinden, auf steiler Rutschbahn hinab in die Thäler bugsiren. Im Uebrigen ist die Genossenschaft der Baude auf sich selbst angewiesen, muß sich für die lange Belagerung des Winters auf das Beste verproviantiren und hat gewiß ein unbestreitbares Recht, sich dem Winterschlafe als Rettungsmittel gegen die Langeweile hinzugeben! Rübezahl macht keine Streiche mehr; er sitzt griesgrämig und mißmuthig über die Zeit der Aufklärung, welche ihn so transparent gemacht hat, daß er nur noch zur Illustration einer Zauberposse dienen kann, in seinem Schnee- oder Eispalast; die Politik reicht nicht auf diese Höhen, obgleich die Grenze zwischen Preußen und Oesterreich über sie hinläuft, die bekanntlich einen sehr scharf markirten politischen Einschnitt bildet – womit sollen sich die armen Baudenbewohner während der langen Wintersaison die Zeit vertreiben?

Desto reger ist Leben und Verkehr, wenn die Sommersonne den Schnee geschmolzen, der nur in den Schneegräben und an den Teichrändern liegen bleibt, wenn die Bergwässerchen aus den Mooren und Hochwiesen hervorquellen, die Laubwälder in der mittlern Bergzone mit voller Pracht sich schmücken und selbst die Trümmergesteine der „Sturmhauben“ die Zier des „Veilchenmooses“ zur Schau tragen. Da beginnt das Hirtenleben auf den Weiden, am frühen Morgen schon klirrt der Eimer der Melkerin, und wenn auch die Hirten nicht mehr, wie zu Andreas Gryphius’ Zeiten, das Hellahorn blasen, so fehlt es doch dann nicht an bunter Rührigkeit auf den Kämmen und Lehnen des Berges, und ein heiteres Volksfest weiht den Auszug der Heerden ein. Bald ergießt sich auch der Schwarm der Touristen in die Berge. Russische und polnische Badegäste, kritische Berliner, welche auch in Rübezahl’s Reiche überall die Eichen tadeln, daß sie keine Kürbisse tragen, Gymnasialdirectoren mit ihren Secundanern und Primanern, wandernde Studenten, die nach einem Commers auf dem alten Kynast in die Berge pilgern. Großbürger und Spießbürger, welche mit den Unbequemlichkeiten einer Bergpartie auf dem gespanntesten Fuße leben, feine Damen in Tragsesseln, von keuchenden Trägern über die schwankenden Steintrümmer der Granitkegel geschleppt – wer nennt sie alle, die Gäste, welche jetzt in abenteuerlichem Durcheinander die hölzernen Salons der Banden bevölkern? Wer malt alle die Genrebilder, welche dieser bunte Verkehr entrollt? Rübezahl müßte seine Freude daran haben, könnte er durch einen Spalt der Wände in die überfüllten Baudenzimmer blicken, besonders wenn er vorher durch einen Regenguß die Wiesenpfade aufgeweicht, die Bächlein stattlich angeschwellt und die fashionable Garderobe in triefende Unordnung gebracht! Da kehren die alten patriarchalischen Sitten wieder, Knigge’s Umgang mit Menschen wird suspendirt, der Kachelofen in Belagerungszustand erklärt und die erste Parallele mit einer Reihe ringsum aufgehängter Herren- und Damenstrümpfe eröffnet; es lösen sich viele, wenn auch nicht alle Bande frommer Scheu; die elegantesten Damen erscheinen im Costüm der Auerbach’schen „Barfüßele“, die elegantesten Herren in Hemdärmeln; man glaubt den Anblick einer japanesischen Badestube im milderen Lichte der christlichen Gesittung vor sich zu haben. Wenn aber erst der Ungarwein im Glase blinkt, Hier ein studentischer Rundgesang ertönt, dort ein auf das Hochgebirge verirrtes Salongespräch, wenn zuletzt Alles sich zu einem heitern gesellschaftlichen Kreise mischt, froh der unfreiwilligen Begegnung und unbekümmert um Adressen und Visitenkarten, Taufscheine und Pässe: dann hat das Baudenleben seine eigenthümliche Romantik, und das Gefühl, sich auf einem verlornen Posten der unentrinnbaren Civilisation zu befinden, das Gefühl, welches die Brust eines Hinterwäldlers schwellt, zieht auch in die Gemüther der frohen Tafelrunde ein.

Zum unveräußerlichen Inventar der Bande gehören die Harfenistinnen, meistens Töchter des gesangreichen Böhmen. Kaum haben die Gäste sich etwas von den Beschwerden der Wanderschaft erholt, den Staub von ihren Füßen geschüttelt, sich mit Trank und Speise erquickt und durch diese Stärkung des Leibes auch die Seele in eine für höhere Genüsse empfängliche Stimmung versetzt: so erscheinen jene Künstlerinnen, greifen in die Saiten und singen ihre czechischen Lieder. Man würde sich indeß irren, wenn man diese Damen für schöne Houri’s aus Rübezahl’s Paradiese hielte. Wohl findet sich bisweilen ein anmuthiges böhmisches Kind darunter,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_764.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2022)