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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Mauern und Thürmen umgeben, die kleine Stadt. Ueber beiden, an sanftansteigender, fruchtbarer Bergeshalde, steht zwischen prächtigen Wallnuß- und Obstbäumen halbversteckt die blendendweiße Schlachtcapelle mit rothem Dach und Thürmchen ungemein malerisch da, und leuchtet wie ein Edelstein im Glanz der Sonne weit in's schöne Land hinaus. Die schöpferische Einbildungskraft des trefflichsten Landschaftsmalern könnte sich wohl kein lieblicheres Bild gestalten. Neben der Capelle steht das kleine Beinhaus zum Aufbewahren der von der Pflugschaar an’s Tageslicht gebrachten Knochen der Erschlagenen, und ringsherum vier uralte, niedrige Kreuzsteine. Mit dem ersten Grauen des Jahrzeittages laden die beiden Glöcklein der Capelle mit beweglichem Gebimbel zur Frühmesse ein. Ihr folgen, je nach mehr oder weniger starkem geistlichen Besuche, 15 bis 20 andere Messen, darunter drei feierliche Hochämter. Von allen Seiten her strömt das festlich gekleidete Landvolk zur Capelle und füllt vom frühesten Morgen bis zur Beendigung der Festfeier ihren Raum. Die Cantonsschule und das Lehrerseminar haben Ferien. Studenten und Lehramtskandidaten rücken daher am frühen Morgen mit ihren weißrothen und weißblauen Vereinsfahnen und mit Musik aus, um mit besonderer Vor- und Nachfeier, mit eigener Festrede, mit Musik und Gesang die Schlachtfeier zu begehen. Hinter der Capelle, im Schatten der herrlichsten Nußbäume, deren breite Schlagschatten sich ungemein malerisch an den weißen Mauern des Kirchleins abheben, ist ein großes blauweißes Zelt errichtet, zur Aufnahme der Regierungsabgeordneten und der zahlreich anwesenden Geistlichkeit. Unter demselben, an die Mauer der Capelle gelehnt, steht die kleine hölzerne Kanzel für den Ehrenprediger.

Es ist 8 Uhr. Eine Menge Volks hat sich schon in malerischen Gruppen um die Capelle aufgestellt. Von ferne ertönt Musik und flattern drei Fahnen. Jetzt folgt wohltönender Gesang, das begeisterte Sempacher Schlachtlied: „Laßt hören aus alten Zeiten“ etc. Es sind die Studenten, die heranrücken. Nach Absingung eines Einleitungsliedes mit Musikbegleitung betritt der von ihnen in besonderer Versammlung auserkorene Redner die Kanzel und spricht in jugendlicher Begeisterung von den Großthaten der Väter. Das Volk lauscht gerne den jugendlichen Worten des Musensohnes, und Mancher nickt dem Nachbar zu und sagt: „Der hat ein Redhaus, das giebt einen Pfarrer!“ Während der Rede kommt der Staatswagen mit dem Regierungsabgeordneten, Rathsschreiber und Ehrenprediger angefahren, der Staatsweibel in dem weißblauen Mantel und Nebelspalter neben dem Kutscher auf dem Bock; sie werden mit einer Rede begrüßt. Unterdessen ist die kurze, aber begeisterte Feier der Studenten zu Ende, und die Musensöhne räumen den Platz, den nun die Regierungsabgeordneten und die Geistlichkeit einnehmen. Die Ehrenpredigt beginnt. Von dem Religionslehrer des Lehrerseminars gehalten, war sie dieses Jahr einfach, kurz, allgemein verständlich und volksthümlich gehalten. Sie schilderte den Geist der Bruderliebe und Eintracht, der unsere Väter in den Freiheitsschlachten beseelt, und den wir in den gemeinnützigen Bestrebungen unserer Gegenwart durch die Macht der Bereinigung schon bethätigen und immer noch mehr bethätigen sollen.

Während der Predigt bildet die kleine Volksversammlung um das Zelt ein sehr belebtes Bild. Hier eine Gruppe hübscher, leise plaudernder Landmädchen in ihrer kleidsamen modernisirten Tracht, und um sie flanirend junge Burschen, die sichere Kunde bekommen von dem sonst geheim gehaltenen Bittgang an die Schlacht-Jahrzeit. Dort eine Schaar Studenten mit ihren Fahnen und farbigen Mützen im Schallen der Bäume behaglich hingelagert. Ueber das Ganze spannt der reine Himmel seinen blauen Bogen und gießt die heiße Julisonne in reicher Fülle zitternd ihr belebendes Licht.

Nachdem die Ehrenpredigt beendigt ist, betritt der Leutpriester von Sempach in pfarramtlichem Ornate die Kanzel und liest mit sehr vernehmlicher, weithin tönender Stimme in alterthümlicher Sprachweise den sehr merkwürdigen Schlachtbericht aus dem Jahrzeitbuche der Schlachtcapelle. Derselbe ist von Leutpriester J. Ulrich im Jahr 1577 und zwar höchst wahrscheinlich nach ältern Vorlagen verfaßt. In schmucklos einfacher, aber um so wirksamerer Sprache erzählt er die Ursachen und den Verlauf des Krieges, nennt die erbeuteten Banner, wohin sie bei der Vertheilung gekommen, giebt das Verzeichniß der gefallenen Edlen, wie aller auf der Wahlstatt gebliebenen Eidgenossen und schließt in dem allgemeinen Gebete mit den rührenden Worten: „Laßt um Gotteswillen uns eingedenk sein aller Derjenigen, die auf dieser Wahlstatt sowohl auf unserer, als auf österreichischer Seite geblieben und umgekommen sind, deren Jahrestag und Gedächtniß heute gehalten wird.“

Nach beendigtem Gebete wird das letzte feierliche Hochamt mit Musikbegleitung abgehalten, nach welchem sämmtliche anwesende Geistliche mit der Abordnung der Landesregierung unter Vortragung von Kreuz und Fahne aus der Capelle ziehen zum kirchlichen Grabbesuche der Gefallenen. Das alte schöne Kirchenlied „Libera nos“ ertönt. Zuerst wird das Beinhaus mit den Knochen der Gefallenen mit Weihwasser und Weihrauch eingesegnet, nachher die vier Kreuzsteine, bei welchen jedes Mal ein kurzer Halt gemacht wird. Ringsum umsteht den Bittgang das betende Volk in ernster Haltung und in malerischen Gruppen. Ist auch diese kirchliche Todtenfeier endlich zu Ende, dann vertheilt der Leutpriester von Sempach das Almosen der Landesregierung, das 57 Franken beträgt, unter die zahlreich zusammengeströmten Armen. Während dieser Zeit findet im Schatten eines riesenmäßigen Nußbaumes oberhalb der Schlachtcapelle die Nachfeier der Lehramtscandidaten ebenfalls mit Anrede und Gesang statt, und nach derselben ziehen sie, vereint mit den Studenten unter Musik und Gesang und die vier lustig flatternden Fahnen voran, hinunter in das Städtchen, wo ein bescheidenes Mittagsmahl sie erwartet. Bei demselben wurde dieses Jahr beschlossen, in telegraphischer Zuschrift Herrn Prof. Rauchenstein in Aarau den Dank der studirenden Jugend von Luzern auszusprechen, weil er sich die verdienstliche Mühe genommen, gegenüber der geschichtlichen Scheidewasserkritik der Neuzeit, namentlich eines Ottokar Lorenz in Wien, die Existenz Winkelried’s festzustellen. Der greise Professor beantwortete sogleich umgehend durch den Telegraph diesen Ausdruck jugendlicher Erkenntlichkeit mit den Worten: „Glücklich das Land, wo die Jugend mit dem Herzen die Thaten der Väter ehrt und ihnen nacheifert; an solcher Jugend können die Alten nur Freude haben.“

Die Landesregierung hält durch ihren Abgeordneten für die anwesenden Geistlichen, sowie für angesehene Festbesucher von Luzern, von Sempach und Umgebung Freitafel mit 80 bis 100 Gedecken, zu der sie durch ihren Standesweibel gastfreundlich die Gäste einladen läßt. Während des Mahles bringen Studenten und Lehramtskandidaten nach einander Ständchen mit Musik und Gesang, und erhalten dafür aus der freigebigen Hand des Regierungsabgeordneten ihre Spenden an Ehrenwein. Trinksprüche und vaterländische Lieder beleben die Tafelfreuden, und es bewährt sich dabei das Wort unseres schweizerischen Thukydides Johannes v. Müller: „Das ist allerdings der beste Theil des Festes, wenn der Mensch auf Gott getrost, mit all seinen Brüdern guten Muthes ist. –

Noch bleibt uns am Schlusse unserer Schilderung übrig, die verehrten Leser der Gartenlaube auf den jetzigen Schlachtenbruder oder Sigristen aufmerksam zu machen, falls sie sich bewogen finden sollten, auf einer genußvollen Schweizerreise im nächsten Sommer von der Eisenbahnstation Sempach aus eine Wallfahrt auf das Schlachtfeld zu unternehmen. Sie werden in dem alten lebhaften Männchen ein Original von Cicerone finden, wie ein solches wohl eine Seltenheit ist. Aus einer alten Züricher Chronik, die er einst gelesen, kennt er Einzelnheiten aus dem Verlaufe der Sempacher Schlacht, die Niemandem sonst bekannt sind. Noch hat er bei seinen Lebzeiten die Eisentafel an einer einsamen Eiche gekannt, worauf zu lesen stund, daß daselbst Winkelried den Seinen eine Gasse gemacht. Franz Helfenstein, so heißt der Schlachtsigrist, weiß Bescheid von der Lilie, welche da entsprossen, wo jetzt der Hochaltar der Schlachtcapelle steht, auf welchem Grund und Boden der Erzherzog Leopold sein junges Leben gelassen. Seine Gattin sei dann gekommen und habe die Eidgenossen gebeten, das Köstlichste von der Hinterlassenschaft ihres Gemahls, das sie zu tragen vermöchte, wegnehmen zu dürfen. Das sei ihr willig gestattet worden. Darauf habe sie den Leichnam ihres gefallenen Gatten in einen Sack gesteckt und habe solchen drei Schritte weit getragen, worauf er dann von Männern bis zur Wallfahrtscapelle in Gormund fortgeschafft worden sei. Nach Franzens Aussage rühren die Knochen im Beinhaus von den „ältesten Urenkeln“ her, und haben die Eidgenossen bei Sempach Finger an den Händen gehabt, so dick und lang wie Bratwürste. Derlei und noch viel andere wunderbare Sachen erzählt Franz Helfenstein, wohlbestallter Schlachtbruder, und zwar mit einer Lebendigkeit und Ueberzeugungskraft, welche den kühlsten Zweifler stutzig zu machen, und vom Saulus zum Paulus umzuwandeln vermag.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_726.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)