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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

sie meinethalb bis zum jüngsten Tage eingesperrt halten – aber die Briefe, die Briefe muß ich heraus haben!“

Also sprach Cosimus der Zwanzigste zu seiner Tochter, nicht ahnend, wie tief er durch seine letzte Bemerkung über den „Menschen“ Aglaë's zarteste, aufkeimende Gefühle verletze.

Sie schwieg deshalb eine Weile, dann theilte sie ihrem Vater den Inhalt ihrer Gedanken, welche sie sich während seiner Abwesenheit über die Sache gemacht hatte, mit. Aglaë’s Rath war, sich auf weitläufige Proceduren in so drängender Sache nicht zu verlassen und Kaiser und Reich darum nicht aus ihrem ruhigen Schlummerzustande zu bemühen, sondern sich selbst Recht zu verschaffen und, um dies mit dem gehörigen Nachdruck und sichrer Bürgschaft des Erfolgs thun zu können, zuvörderst und ohne Zeitverlust die Stammvettern und die anderen Reichsgrafen und Dynasten im Schwabenlande zu beschicken und heranzuziehen zu einem großen und mächtigen Bündniß wider der Städter Uebermuth und maßlose Verwegenheit.

Cosimus der Zwanzigste betrachtete die verschiedenen Seiten, welche für einen gewiegten Politiker dieser Plan darbot. Die Idee, an der Spitze einer großen Liga dynastischer Interessen zu stehen, gefiel ihm aus der Maßen wohl. Er hatte nur die Sorge, daß es unmöglich sein werde, die andern Herren im Schwabenlande, deren jeder nur seinem eigenen Kopfe zu folgen pflegte, zu irgend etwas Gemeinsamem, und mochte es noch so ersprießlich für Alle sein, zu bewegen. Dafür waren sie deutsche Reichsgrafen und Landgrafen etc. Auch war nicht zu hoffen, daß man mit der Drohung einer solchen Eventualität die Herren von Großlingen erschrecken werde – höchstens konnte es den Erfolg haben, daß sich die hochnotpeinliche Justiz der edlen freien Reichsstadt ein wenig in den Proceduren beeilte, in denen sie zweifelsohne jetzt wider den unglücklichen Gefangenen sich ergehen werde, und die, wenn man den natürlichen Lauf der Dinge nicht störte, für ein paar Jährlein sicherlich zur absonderlichen Befriedigung des Reichsstadt-Großlingenschen politischen Selbstbewußtseins sich fortspinnen mußten.

Cosimus beschloß deshalb für’s Erste, mit Hintansetzung aller weiteren Erörterungen mit seinen Nachbarn wegen gewaltthätiger Gebietsverletzung, Landfriedensbruch u. s. w. sich zur Abordnung einer feierlichen Gesandtschaft zu bequemen und von den Städtern blos die Briefschaften zu reclamiren, welche der Gefangene bei sich führe.

Zwei seiner Beamte wurden deshalb mit einem großen Schreiben, dessen Ausfertigung sich bis tief in die Nacht hineinzog, am andern Tage nach Großlingen abgefertigt.

Gegen Abend desselbigen Tages kehrten sie zurück und berichteten ihrem Gebieter, daß nach einer äußerst stürmischen Sitzung des gesammten großen Raths und Magistrats die wohlweisen und fürsichtigen Herrn einen vollständig abweisenden Beschluß gefaßt, mit dem sie, die Abgeordneten, heimgeschickt worden, da alle Papiere des Inhaftirten bei den Acten bleiben müßten. –

Cosimus war außer sich. Dem ersten formidablen Zorne, in welchen ihn diese Nachricht versetzte, folgte jedoch eine tiefe Niedergeschlagenheit, worin sich zeigte, wie sehr es ihm am Herzen lag, den Sohn Teresa Solari’s aus seiner Haft befreien und an seine Brust drücken zu können. Er ging umher wie Jemand, der einen Schlagfluß bekommen und sich nicht von seiner gründlichen, inneren Verstörung erholen kann. Der Wein hatte keine Süßigkeit mehr für ihn und der große Meerschaumkopf keinen Reiz.

Mehrere Tage vergingen so, und es schien, als ob Cosimus täglich rathloser werde. Aber auch von Aglaë’s Wangen wichen die Rosen fröhlicher Gesundheit. Aglaë sah im Geiste den schönen jungen Grafen aus dem rhätischen Alpenlande in einem schrecklichen Verließe gefangen, wo ihn kein Sonnenstrahl beschien und wo sich die Verzweiflung seiner bemächtigte. Es mußte in der That entsetzlich sein, die Rolle der armen Maus spielen zu müssen, mit welcher die grausame Katze der Großlingenschen hochnotpeinlichen Justiz ihr Spiel trieb! Sie sann hin und her und brütete über Plänen, die Herzen der schlimmen Regenten der Stadt zu erweichen – endlich fand sie einen Plan, und dieser Plan war gut, er war vortrefflich – wenn es nur nicht so schwer gewesen wäre, ihn – auszuführen nicht, wohl aber, ihn dem Vater vorzuschlagen!

Es war in einer Dämmerungsstunde, wo ihr Vater sich in ihrem Zimmer befand und trübselig durch das geöffnete Fenster in den Abendhimmel hinausschaute; wo sie ein kleines Tabouret neben seinen Stuhl geschoben hatte und ihre Wange an seine Schulter lehnte, so daß er nicht sehen konnte, wie ihre Züge bald bleich, bald vom tiefsten Roth überflogen wurden, während sie sprach; wo eine weiche, fast sehnsüchtige Stimmung den an rohe Lebensformen gewöhnten Mann überkommen zu haben schien, und wo er einem Worte, das sich an sein im tiefsten Grunde so gutmüthiges Herz wandte, einen guten Boden zu gönnen mehr geneigt war, als seit langer Zeit.

„Vater,“ sagte Aglaë, „ich sehe, es bricht Ihnen das Herz, daß man Ihnen Ihren – weshalb soll ich das Wort nicht geradezu aussprechen? – Ihren Sohn vorenthält!“

Cosimus schwieg. Er legte nur leise den Arm um die Taille seines Kindes.

„Ich mache mir Vorwürfe,“ fuhr Aglaë fort, „daß ich aus falscher Scham, aus einer mädchenhaften Zurückhaltung, die ich nicht überwinden konnte, das Wort verschweige, das all diesem Kummer ein Ende machen könnte.“

„Und giebt es solch ein Wort?“ fragte .der alte Herr. „Ich weiß keines!“

„Du kennst die Grafen von Werdenfels,“ fuhr Aglaë fort.

„Ich kenne sie … ich bin mit einem Oheim Albrecht’s von Werdenfels auf der Hochschule zu Prag gewesen. Wer kennt sie nicht im Schwabenlande? Es ist ein edles und ehrenwerthes altes Geschlecht; einst waren sie mächtiger und reicher als alle in den rhätischen Landen und jenseits des schwäbischen Meeres, die Habsburger selber nicht ausgenommen.“

„Aber sie sind nicht mehr mächtig und reich?“

„Nein; sie sind um den größten Theil ihrer Herrschaften und Lehne gekommen … sie sind arm jetzt, sehr arm!“

„Was sie aber nie dazu gebracht hat, etwas zu thun, das ihres alten Namens und ihrer Geburt unwürdig wäre?“

„So viel ich weiß,“ versetzte Cosimus, „haben sie nie etwas gethan, was sie um einen Theil der Achtung bringen könnte, die ihnen gebührt und die Jedermann noch heule dem Namen Werdenfels zollt. Es müßte denn sein,“ fuhr Cosimus fort, „man wollte etwas Unehrenhaftes darin sehen, daß dieser Albrecht zu Fuße durch die Welt schwärmt und die Narrenpossen treibt, welche ihn in seine jetzige entwürdigende Lage gebracht haben.“

Aglaë schien eine Weile über diesen letzteren Punkt nachzudenken. „Ich glaube nicht.“ sagte sie dann, „daß ein Mann, welcher einem Hause des hohen Adels angehört, wohl daran thut, Fußreisen zu machen. Es ist nicht geziemend für ihn. Aber ich denke nicht, daß es hinreichend ist, ihn darum als einen unwürdigen Sprossen seiner Ahnen zu betrachten und seinen moralischen Werth, deshalb geringer anzuschlagen. Die Ritter, welche Gottfried von Bouillon nach Palästina folgten, haben oft genug, wenn ihre Pferde erlegen waren, tagelang durch den Sand Palästinas wandern müssen.“

„Es mag sein, mein gelehrtes Töchterchen,“ versetzte Cosimus kopfnickend; „auch steht es jedem Fürsten und jedem Manne, weß Standes er sein mag, wohl an, wenn er zu Fuße eine Wallfahrt zu einem Gnadenbilde unternimmt; aber ich muß zweifeln, ob das die Meinung war, mit welcher Albrecht von Werdenfels zu Fuß das Haus seiner Väter verlassen hat; und jedenfalls ist es mir lieb, daß Niemand von meinem Geschlechte behaupten kann, es habe jemals ein Reichsgraf von Glimmbach auch nur eine Tagereise zu Fuß gemacht.“

„Streiten wir darum nicht,“ versetzte Aglaë, ihre weiße Rechte auf die breite Schulter ihres Vaters legend; „soviel ist gewiß, die Werdenfels sind ein unserem Hause ebenbürtiges Geschlecht, und wenn Albrecht von Werdenfels in diesem Augenblicke eine Behandlung leidet, die ihn mit Verbrechern auf eine Stufe stellt, so kann auch dies seiner Ehre keinen Eintrag thun, denn zu allen Zeiten sind edle Herren und große Dynasten durch unglückliche Zufälle in die Gefangenschaft ihrer Standesgenossen oder übermüthiger Städter, denen sie eine Züchtigung zugedacht hatten, gerathen und in deren Verließen und Gefängnissen bestrickt gehalten worden.“

Cosimus nickte wieder mit dem Kopfe. „Das ist richtig, mein Kind,“ sagte er. „Gefängniß, sei es nun wegen einer begangenen Gewaltthat, oder sei es in Folge der Schicksalsschläge, welche einen Krieg begleiten, kann einen Edelmann nicht entehren. Die stolzesten Geschlechter zählen Ahnen auf, welche wegen Straßenraub oder andrer Ausübung ihres auf den Stegreif angewiesenen Berufs dem Nachrichter verfielen.“

„Nun wohl,“ fuhr Aglaë fort, „und wenn die Werdenfels

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