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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

daß sich danach sehen läßt – wir haben jetzt kaum eine Wahl, Miß!“ erwiderte er, mit der Hand die häufiger fallenden Regentropfen auffangend; sie blickte einen Moment mit sich im Kampfe zuerst die öde Straße hinab, dann auf den jungen Mann vor ihr und sagte, wie in einem kurzgefaßten Entschlusse den leichten Ueberwurf dichter um die Achseln ziehend:

„So lassen Sie uns gehen, Sie werden mich sicher nur dahin führen, wo ein anständiges Mädchen bleiben kann!“

Er nickte nur und schritt, ihr zwei Fußlängen voran, eilig die Straße hinauf. Erst an der angedeuteten zweiten Ecke blieb er, wie von einem Gedanken berührt, stehen. „Sie sind ganz allein angekommen?“ fragte er, sich nach ihr umblickend.

„Ich habe Freunde einige Meilen im Lande, die ich morgen früh aufsuchen will?“ erwiderte sie, er aber schüttelte kurz den Kopf.

„Ich frug wegen etwas Anderem, es muß aber auch so gehen! “ brummte er und schritt einem der räucherigen Häuser in der Seitenstraße zu, dort die Klingel ziehend. Erst nach einer Weile öffnete sich langsam die Thür, und mit einem Wink zum Folgen gegen seine Begleiterin trat er ein. In der schmalen Hausflur stand, eine trübe brennende Lampe in der Hand, ein Dienstmädchen, das sich sichtlich erst dem Schlafe entrissen und verwundert den Kopf hob, als die elegante weibliche Gestalt hinter dem jungen Mann hervortrat. „Hier ist eine Lady, Susy, die ein Bett für diese Nacht braucht,“ begann der Letztere, aber ein eifriges: „Wir dürfen Nachts keine einzelnen Frauenzimmer aufnehmen, sie kann nicht hierbleiben!“ schnitt seine Rede ab, und damit schien auch die Müdigkeit der Thürhüterin völlig verschwunden, deren Augen sich jetzt groß auf jede Einzelnheit in der Erscheinung der Fremden zu heften begannen.

„Weiß Alles, Susy, hier aber steh’ ich gut für die Lady, verstanden? “

„Kann nichts helfen, Mr. Reinert, Madam hat’s verboten, und ich nehme sie nicht auf.“

„Kann nichts helfen, wenn ich gut stehe?“ rief der Mann in einem Tone, in welchem sich Humor und Aerger mit einander stritten, „dann hätte freilich die Liebe ein Ende, und ich müßte für alle Zukunft sehen, ob mein Wort anderwärts nicht etwas gilt. Jetzt brennen Sie ein Licht an und bringen die Lady nach einem Zimmer mit einem ordentlichen Bett, oder Sie wecken Madam, daß die Ihnen ein Licht aufsteckt, wie man anständige Leute behandelt! So steht’s, Susy!“

Die Fremde war mit bleichem, regungslosem Gesichte der Verhandlung gefolgt und trat jetzt mit gehobenem Kopfe heran. „Sie können mir ruhig ein Unterkommen für die Nacht geben, Kind; ich werde morgen Ihre Madam selbst sprechen,“ sagte sie mit der eigenthümlichen, sichern Gehaltenheit, welche die Frauen der höhern Stände im Verkehr mit niederer Stehenden kennzeichnet, „übrigens sollen Sie sich nicht umsonst noch in später Nacht Mühe machen!“ und nach einem langen, zweifelhaften Blicke, bald über die ganze Erscheinung der Herangetretenen bald in das Gesicht des jungen Mannes, störte die Widerspenstige endlich den Docht ihrer Lampe auf, um zögernd aus dem Hintergrunde der Hausflur zwei Leuchter, jeden mit einem Stümpfchen Licht versehen, herbeizuholen, es ungewiß lassend, ob die Aeußerungen des jungen Mannes oder das Wesen der Fremden eine Aenderung ihres Entschlusses herbeigeführt.

„Und wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen, im Fall ich Sie nicht wieder sehen sollte?“ begann die Letztere sich an ihren Helfer wendend und streckte diesem eine weiße, vom Handschuh befreite Hand entgegen, als die Thürhüterin Miene machte, die Treppe hinauf voranzugehen; „ich möchte doch wenigstens wissen, wem ich meinen Dank schuldig bin!“

„Wird kaum viel an meinem Namen gelegen sein, und jedenfalls sehe ich Sie morgen früh noch einmal wegen des Gepäcks!“ lachte der Angeredete, die dargebotene Hand kräftig schüttelnd, „indessen heiße ich Michael Reinert und habe mit einem Geschäftscollegen einen Milch- und Gemüsehandel, da wo Sie mich trafen. Wär’s nicht gerade gewesen, daß Einer von uns auf die Farmerwagen warten mußte, so wären Sie wahrscheinlich noch nicht gleich in’s Trockene gekommen!“

Die Fremde hatte das ihr angewiesene Zimmer betreten, das Dienstmädchen mit einer Gabe weggesandt und ließ jetzt mit einer Art halber Scheu die Augen über jeden Gegenstand im Zimmer gleiten. Es zeigten sich eben nur vier kahle, weiße Wände, ein breites, hochbeiniges Bett, das kaum mehr als eine Strohmatratze zu enthalten schien, ein Waschtisch mit thönernem Waschbecken und gleichen, Wasserkrug und ein Stuhl mit hölzernem Sitze. Als sie langsam ihren Hut abgelegt, schien sie ein kurzer Schauer zu überkommen, aber wie sich gewaltsam ermannend machte sie einen raschen Gang durch den kleinen Raum, schob den Riegel vor die Thür und schlug dann die wattirte Decke des Bettes zurück, als wolle sie sich von dem Zustande desselben überzeugen. Das kurze, trübe brennende Licht, das sie zur Eile zu mahnen schien, wenn sie noch im Hellen zur Ruhe kommen wollte, gab ihr wenig Hülfe für ihre Untersuchung; sie entledigte sich, wie in kurzem Entschlusse, nur ihrer äußeren Umhüllung, ihres Kleides und ihrer zierlichen Stiefeletten, und streckte sich dann, nochmals mit einem forschenden Blicke jeden Winkel des Zimmers durchlaufend, auf dem harten Lager aus. Sie hatte kaum langsam die Decke über sich gezogen, als das Licht mit einem kurzen Aufflackern erlosch und die weißen Wände nur in den einzelnen schwachen Strahlen, welche eine entfernte Straßenlaterne durch das Fenster hereinwarf, sichtbar wurden. Draußen goß der Regen nieder, und unwillkürlich verfolgte die Daliegende das Geräusch des fallenden Wassers, bis sich ihr Ohr einen ganzen Rhythmus daraus zu bilden begann und die unsichern, Lichtstreifen an den Wänden sich danach zu bewegen schienen; aber die monotonen Laute übten eine eigenthümlich beruhigende Wirkung auf ihre erregten Nerven, und ungerufen begannen vor ihrer Seele klare, bestimmte Bilder aufzutauchen.

Da war ein heller Frühlingsmorgen, an welchem sie, noch ein halbes Kind an Geist und Körper, zuerst amerikanischen Boden betreten. Sie kam über das Meer vom Todesbett einer heißgeliebten Mutter, deren letzte Worte für sie gewesen waren: „Lucy, lerne Dich fügen, und es wird Dir wohlgehen!“ Aber dieses „sich fügen lernen“ hatte sie schon so oft als Kind hören müssen und stets hatte sie dabei gefühlt, als werde ihr klarstes Recht damit unterdrückt, daß es selbst gegen die letzte Ermahnung des geliebten Mundes sich wie Opposition in ihr geregt halte. Und erst später sollte sie den Sinn der Worte völlig kennen lernen. Nun war sie mit einem Bruder ihrer Mutter, welchen die langwierige Krankheit derselben aus seiner amerikanischen Heimath über das Meer geführt, als Waise nach der neuen Welt gekommen und war in eine Familie eingetreten, in der jedes Gesicht und jedes Herz ihr fremd gegenüberstand. Und sie war kein Kind, das sich leicht anschmiegte oder durch Liebenswürdigkeit fesselte. Sie hatte ihrer Pflegemutter, die sie als eine unvermeidliche Last empfangen, versprochen, ihren Pflichten gehörig nachzukommen, und sie that dies, ohne doch damit mehr zu erreichen, als die beiden jungen Cousinen, welche sie vorgefunden, neidisch und ihre Pflegemutter sich mit jedem Tage abgeneigter zu machen. Anfänglich wohl hatte die Anerkennung ihres Verhaltens nicht ausbleiben können; als aber Lucy diese kaum wärmer als wie etwas Selbstverständliches aufzunehmen schien, als im Familienverkehr ihr gerader, eigenthümlicher Charakter sich oft störend geltend machte, während sich doch kaum ein anderer Grund als ihre Schroffheit zu einem Verweise finden ließ: da hatte sie bald selbst die laue Freundlichkeit ihrer Pflegemutter schwinden fühlen, hatte bald mehrfach Ungerechtigkeiten derselben ertragen und zuletzt sich als „daß unangenehme Ding, mit dem kaum auszukommen sei“, bezeichnen hören müssen.

Dann kam die Zeit, in welcher sie Jungfrau wurde. Sie begann sich rascher und vortheilhafter zu entwickeln als ihre Cousinen, und ein wunderbar natürlicher Takt schien das bei ihr zu vollbringen, was sonst nur eine bildende und regelnde Muttersorge schafft; ihre Bildung war nach den Ansprüchen der sie umgebenden Welt fast eine vollendete; sie hatte gewußt, daß es die Trümmer ihres elterlichen Vermögens waren, durch welche ihr die Erlangung von Kenntnissen und Fertigkeiten wurde, daß das, was sie lernte, ihr einziges Kapital für die Zukunft war, und sie hatte sich in unermüdlichem Eifer ihren Studien, die sie[WS 1] oft ihre unangenehme Stellung vergessen ließen, hingegeben; jetzt aber wollte es ihr oft scheinen, als betrachte ihre Pflegemutter ihre ganze Persönlichkeit nur als ein Hinderniß, ihre eigenen Töchter in das rechte Licht zu setzen; wo sie früher nur auf Kälte und Vernachlässigung getroffen, da meinte sie jetzt absichtlichen Demüthigungen zu begegnen, sie glaubte bei einzelnen Gelegenheiten in dem Auge ihres Pflegevaters zu lesen, daß er das ihr angethane Unrecht empfinde, aber es nicht wage, ihre Partei zum Nachtheil seiner eigenen Töchter zu nehmen, und die Ueberzeugung begann von einem Tage zum andern mehr

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ihr
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_674.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)