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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

hatten, lag eine weit hingestreckte, fast ununterbrochene Wiese von circa 40,000 Morgen Grasland vor uns. Es war das besagte St. Jürgener-Land, das ein großes, ganz flaches Dreieck zwischen den Flüssen Hamme und Wumme bildet und von einem Labyrinthe von Wasserarmen, künstlichen Gräben und Canälen oder „Fleeten“ und kleinen natürlichen Tümpeln und Seeen durchfurcht ist.

Schon die Entstehungsweise dieser „Tümpel und Seen“ steht mit dem schwimmenden Erdreich von Wakhusen in einiger Verbindung und erklärt dieselbe wenigstens zum Theil. Im Winter nämlich, wenn das ganze Land überschwemmt ist und bei starker Kälte mit einer dicken Eiskruste bedeckt wird, verbindet sich stellenweise diese Kruste mit dem untenliegenden Boden und Geschilfe, und gefriert mit ihm in eine Masse zusammen. Wenn nun im Frühlinge der Eismantel sich löst und zerspringt, bleiben zuweilen mehr oder minder große Stücke gefrornen Landes an den Schollen hängen, und werden mit ihnen fortgeführt. Die Landeskinder nennen sie „Dobben“ oder „Eisdobben“. Zuweilen werden auf diese Weise ganze Tagewerke (ein „Tagewerk“ zu zwei Morgen) auf einmal losgerissen und versetzt, und die Dicke der gelösten Erdschicht beträgt wohl drei bis fünf Fuß.

Die Eisschollen bleiben mit ihrer schweren Last an irgend einer kleinen Bodenschwelle hängen und setzen sie daselbst ab, indem sie schmelzen. Da, wo sie die Erde losrissen, entsteht ein Loch, das sich mit Wasser füllt, und das die Leute daher wohl eine „blanke Stelle“ zu nennen pflegen. Wenn in einer Gegend das Eis sich häufig solche „Dobben“ herausholte, so vergrößert sich wohl der kleine Wassertümpel zu einem See von etwas bedeutenderem Umfange.

Der größte See des St. Jürgener Landes, der auf diese Weise entstanden ist, heißt „die Blänken“. Er steht unter diesem Namen auf unsern Landkarten und hat auf ihnen wohl anderthalb Stunden im Umfange. Unser Weg führte uns mitten durch diesen „See“ hindurch. Er bot jetzt im Hochsommer, wo überall hohes Schilf aus dem Wasser emporragte, den Anblick einer grünen Wiese dar. Nur im Winter, wo das Schilf abstirbt, ist er in seinem ganzen Umfange „blank.“ – Diese durch das Eis in der Oberfläche des Landes ausgearbeiteten „Blänken“ wären dem guten Plinius, wenn er sie gekannt hätte, wohl wieder als ein „Miraculum Germaniae“ erschienen. Aber wohl mit noch größerem Interesse hätte dieser aufmerksame Naturbeobachter die Berichte der Landeskinder über ein anderes Winter-Phänomen dieser Gegenden, die sogenannten „Spanjen“ angehört, wenn er so, wie ich es jetzt that, mit den Nachkommen seiner Chauci Majores oder Minores im Lande hätte herumschiffen und sie in ihrer niedersächsischen Sprache hätte examiniren können.

„Spanjen“ – wahrscheinlich von „spannen“ abzuleiten – nennen sie in diesen Gegenden die Risse, welche zuweilen bei heftigem Froste und starker Anspannung des Eises in der Eiskruste entstehen und sehr sonderbare Effecte zu Wege bringen. Diese Risse oder „Spanjen“ gehen mit einem heftigen Knalle und Krachen los und durchsetzen die Eisdecke zuweilen mit Blitzesschnelle zwei bis drei Wegestunden weit und weiter. Aehnliches geschieht freilich auch anderswo, wo sich breite zusammenhängende Eisdecken bilden. Das Eigenthümliche aber, das dies Phänomen hier darbietet, kommt durch die sumpfige Beschaffenheit des Landes zu Wege. Da, wie gesagt, in sehr kalten Wintern nicht nur das Wasser bis auf den Boden gefriert, sondern auch dieser erstarrt und sich mit dem Eise zu einer Masse verbindet, so theilt sich der in dem Eise beginnende Riß auch dem festen Boden mit. Auch dieser wird geklüftet und thut sich wie das Eis auf, und beide, Eisschollen und Erdreich, werden dabei zuweilen 5 bis 6 Fuß hoch und mehr zu beiden Seiten des Risses in die Höhe getrieben und aufgehäuft. Die Rille, die sich in der Tiefe alsbald mit Wasser füllt, wird mitunter so breit, daß man darin wie in einem natürlichen Canale zwischen Eis- und Schlammmauern durchhin schiffen kann.

Wenn eine solche „Spanje“ unterwegs auf einen anderen Gegenstand, z. B. auf ein im Eise eingefrorenes Schiff trifft, so vermag sie auch dieses entzwei zu reißen. Sie geht vom Eise und Schlamm auch auf das daraus hervorragende Festland über, zerreißt Erdhaufen oder Inseln, die ihr im Wege liegen, und setzt mitten durch die hohen Deiche des Landes, wenn sie mit dem Ganzen zusammengefroren sind. Ja, sie fährt sogar wie ein Blitz in die auf diesen Deichen und Inseln stehenden Häuser, wühlt unter ihnen den Boden auf, zerspaltet die Mauern und zerreißt die Balken, „gleichsam, als wenn eine Kanonenkugel durch das Haus gefahren wäre.“

„Ich habe es selbst in meinem eigenen Hause einmal erlebt,“ erzählte uns unser Schiffer. „Ich saß ganz ruhig bei meinem Feuer, als es plötzlich mit großem Spectakel dicht bei meinen Knieen vorüberfuhr und quer durch’s Haus schoß. Der Boden neben mir wurde wie von einem Erdbeben aufgewühlt, die Balken, auf denen mein Haus stand, zerrissen und die Mauern gespalten. Je fester die Erde ist, sagen die Leute, desto bester kann die Spanje laufen. Kommt sie in weichen Boden, da hat sie keine Macht mehr und da läuft sie im Sumpfe aus. Und bei Thauwetter laufen gar keine Spanjen im Lande. Auch kommen die großen und zerstörenden Spanjen nicht alle Winter, sondern nur, wenn die Kälte sehr stark war und lange dauerte.“

Jetzt in dieser schönen Sommerzeit halte ich nicht Gelegenheit, weder über diese „Spanjen“, noch über jene „Eis-Dobben“ selbst einige Beobachtungen zu machen. Ich konnte nur den Erzählungen meiner Leute darüber lauschen. Unsere nassen Wege standen jetzt im schönsten Schmucke des Frühlings. Ueberall schifften wir durch zahlreiche Plantagen der weißen Seerose (Nymphaca aquatica), welche eben jetzt in der herrlichsten Blüthe stand, und mit ihren schneeweißen großen Kelchbechern alle Tümpel und kleinen Wasserverstecke schmückte. Die Hiesigen nennen ihre breiten schwimmenden Blauer „Lotken Bläder“. Es ist ein Name, der vielleicht etwas mit dem griechischen Lotos zu thun hat. Für die schönen Blüthen der Pflanze selbst haben sie einen andern Namen: sie nennen dieselben „Poppeln“; und ihre armsdicken, am Grunde des Wassers liegenden Wurzeln haben hier wiedereine besondere Benennung: sie nennen sie „Ausballen“. So besitzt sonderbarer Weise jeder der Haupttheile derselben Pflanze einen eigenthümlichen und verschiedenen Namen. Auch für alle anderen hübschen Gewächse, die in üppiger Fülle zu den Seiten unserer Schifffahrt standen, hatten meine Leute ihren eigenen Namen. So nannten sie das mit rothem Samen bedeckte Kraut den „rothen Heinrich“. Eine Päonie, bei der häufig eine einzelne Blüthe breit aufgeht, während die anderen noch in der kleinen Knospe zusammengerollt, heißt bei ihnen „Gluckhenne und Küken“, eine andere lange, rothblühende Blume „der Katzenschwanz“, eine dritte „der Fuchsstümmel“. Die blaue Iris betiteln sie mit „Ebers-Brod“ (Storchen-Brod). Alle diese und andere Blumen und Gräser, aus denen der Grasteppich dieses Landes componirt war, standen jetzt wie das ganze Land in fußtiefem Wasser. Aber die St. Jürgener verstehen sich darauf, sie „über dem Wasser“ abzumähen. Ueberall fanden wir Leute knietief im Sumpfe watend und mit dieser nicht leichten Operation beschäftigt. Das Gras blieb dabei eine Zeitlang auf dem Wasser schwimmen. Hatten sie einen Strich herunter gemäht, so harkten sie das Gras in einen freien Canal, schoben es in einen großen auf dem Wasser schwimmenden Haufen zusammen und flößten dann diesen Haufen mit einem Brete, das an einem langen Stiele befestigt war, über den Canal hin bis zu der Stelle, wo ihr Heuschiff lag, das mit der auf diese Weise dem Wasser entzogenen und noch triefenden Grasernte beladen wurde. Diese muß dann stundenweit zu einem Deiche oder sonst einer etwas höhern Landstelle weggefahren werden, um da an der Sonne Heu daraus zu machen.

Die Canäle, Gräben und „Fleeten“, welche die Communicationswege des Landes sind, müssen alle Jahre, damit sie sich nicht verstopfen und „zulanden“, fleißig geputzt werden. Dagegen giebt es andere unregelmäßige Gewässer im Lande, z. B. ehemalige Flußbetten oder Flußarme, die man in dieser Beziehung vernachlässigt, und bei solchen Gewässern zeigt sich dann wieder Etwas, was mit dem Phänomen des „schwimmenden Landes“ zusammenhängt. Die Oberfläche solcher stehenden und stockenden Gewässer überzieht sich nämlich bald mit einer Decke von Wasserpflanzen, und wenn diese verwesen, kommt Erdreich hinzu, auf dem sich dann wieder andere Pflanzen einnisten. Im Laufe der Jahre bildet sich so eine dichte und dicke Decke von verfilztem schlammigen Wurzelwerke, das zuletzt im Stande ist, allerlei sehr schöne und nützliche Gräser und Kräuter zu erzeugen und zu tragen. Auch diese schwimmenden Kräuterdecken nennen die Leute hier „Dobben“.

Da diese schwimmenden Dobben beständig mit dem Wasser gehoben werden, und also Alles, was auf ihnen keimt, nie wie das auf festem Boden wurzelnde Gras im Wasser ertränkt wird. so geben sie besonders schönes Viehfutter, und die Gräser stehen auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_667.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2022)