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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

die Anstrengungen, die der Zögling machte, um seiner Stimme Nachdruck und Genauigkeit zu geben, verschlimmerten noch die Sache. Ein Lächeln des Spottes malte sich auf den Gesichtern der Zuhörer, und Herr Auber, der berühmte Director der Anstalt, richtete an den Schüler die vernichtenden Worte: „Wie wenig Verstand, wie wenig Musikkenntniß, ja selbst nur musikalischen Instinct muß man haben, um so schwach und unfähig, wie Sie, eine Prüfung bestehen zu wollen!“ So rücksichtslos wurde dem armen jungen Manne seine schönste Hoffnung getödtet zu Füßen geworfen.

Beschämt, verletzt, außer sich vor Schmerz, verließ er hastig den Saal und jagte, als würde er verfolgt, durch die Straßen nach Hause, wo man ihn mit zweifacher Spannung erwartete. Er lachte, als er in die Stube trat, wo er seine Eltern fand, und als diese wie mit einer Stimme frugen, wie es ihm ergangen sei, gab er zur Antwort: „Ich bin General und habe den Feind geschlagen, weil die Trompeten so falsch bliesen. Die Terz muß sterben, denn sie ist an Allem schuld.“

„Gustave!“ rief der Tischler, indem er seinen Sohn am Arme faßte, „was sprichst Du? Wir fragen Dich, wie es Dir auf dem Stadthause und im Conservatorium ergangen ist.“

Der junge Mann stierte seinen Vater mit großen Augen an und sprach mit Heftigkeit: „Kein Quartier! Nieder mit ihnen. Sie taugen Alle nichts, weder die Infanterie, noch die Cavallerie, denn sie bleiben keinen Augenblick im Takt.“

„Er ist von Sinnen!“ sagte der Tischler mit verloschener Stimme zu seiner Frau, indem er mit dem Ausdrucke des tiefsten Schmerzes auf den Sänger zeigte. Dann machte er noch einen Versuch, seinen Sohn aus der „Nacht der Gedanken“ zu reißen, und als auch dieser mißlang, sagte er kein Wort mehr, sondern führte oder trug vielmehr den Unglücklichen in dessen Stube, entkleidete ihn und brachte ihn zu Bette, in der Hoffnung, daß Ruhe und Schlaf vielleicht dem jungen Manne das verlorene Licht des Geistes zurückgeben werde. – Wohl entschlief Gustave, wohl erwachte er; doch das Licht seines Geistes kehrte nicht zurück. Nach einigen Tagen wurde er in die Irrenanstalt von Bicêtre gebracht, wo ihm die erforderliche ärztliche Pflege zu Theil wurde und wo er einige Monate blieb.

Als er aus dem Krankenhause kam, war sein Vater der schweren Arbeit und dem noch schwereren Grame erlegen und auf dem Friedhofe von Montmartre begraben worden. Seine Mutter hatte die Wohnung in Rue Rocher aufgegeben und sich eine kleine Stube rue de l’Imperateur gemiethet; in einem vorgerückten Alter mußte sie das Gewerbe der Frau Roussel ergreifen, um sich kümmerlich durchzubringen. Von ihr konnte er keine Unterstützung erwarten.

Ohne Celestinen und Frau Roussel hätte es ihm an einem Obdach und an den dringendsten Lebensbedürfnissen gefehlt; diese aber nahmen ihn gastlich auf, und ihr Haus wurde dem vom Schicksal Heimgesuchten eine wahre Zufluchtsstätte. Celestine gefiel sich in der Rolle einer Retterin und glaubte an ihre Liebe zu dem jungen Manne, den das Verhängniß seiner Verfolgung würdig erachtete. Was Frau Roussel betrifft, hätte sie es nicht über sich vermocht, einem Wunsche ihrer Tochter, der so lebhaft auftrat, zu widerstreben; dazu kam, daß ihr Orakel, der Soufleur, das sie um Rath gefragt, den Ausspruch that, daß ein junger Mann, wie Gustave, die Stimme wiederfinden könne, wenn er sie durch irgend eine äußere Einwirkung verloren habe, und daß sie folglich die Hoffnung auf eine glänzende Laufbahn des jungen Mannes nicht aufgab.

Aus dem Zusammenleben der jungen Leute entwickelte sich denn auch ein förmliches Liebesverhältniß, und dieses führte zur Ehe. Einige Monate, nachdem Gustave ein Hausgenosse der beiden Frauen geworden war, fand die Vermählung statt, geräuschlos, im Beisein nur der nächsten Verwandten des Brautpaares.

Die Honigmonde vergingen, wie alle Honigmonde, unter Lust und Glück, unter Vergnügen und Zärtlichkeit; doch folgte ihnen der Jammer auf dem Fuße. Celestine arbeitete und erwarb; Gustave genoß und verthat. Dieser Abstand zwischen den Eheleuten gab, nachdem die schöne Zeit der Schattenlosigkeir verflogen war, zu Reibungen Anlaß, die von Tag zu Tag zunahmen. Celestine hatte als Romanleserin einen Anflug von Schwärmerei, als Ladenmädchen aber war sie äußerst praktisch und berechnend, voll Ehrfurcht vor dem zählbaren Ergebniß der Mühe und Arbeit. Sie sei bereit, sagte sie, auf die Rückkehr der Tenorstimme ihres Mannes zu warten; doch sei diesem dafür die Pflicht auferlegt, sich der äußersten Sparsamkeit zu befleißen und die Befriedigung seiner vornehmen Gelüste bis zu einer Zeit aufzuschieben, da er ihnen aus selbsterworbenen Mitteln würde Genüge thun können.

Wie bitter aber auch die ausgesprochene Zumuthung Celestinens war, sie blieb doch ohne Wirkung auf das fernere Benehmen ihres Gatten. Statt ihn zu überzeugen, reizte sie ihn; und das Recht, welchen das französische Gesetz dem Ehemanne einräumt, mißbrauchend verfuhr Gustave ohne Schonung mit dem Einkommen seiner Frau. – Kaum drei Jahre zählte die Ehe, welche mit einem kleinen Mädchen gesegnet war, als sie schon durch dauernden Hader vielerlei Störungen erfuhr.

Die Geduld, mit welcher Mutter und Tochter auf die Rückkehr der abhanden gekommenen Tenorstimme warteten, riß endlich auch, und sie drängten den Künstler ohne Kunst zur Annahme einer Commisstelle in einem Laden, die sich „glücklicher Weise darbot“, damit er ein wenig die Lasten des Haushalts tragen helfe, statt sie übermäßig zu vermehren; denn man müsse nehmen, was man findet, wenn man nicht finden könne, was man sucht. Gustave mußte nachgeben. Er trat als Commis in einen Laden, wurde aber durch die ihm „aufgedrungene Erniedrigung“, wie er es nannte, so erbittert, daß der Hausfriede durch die Anstellung eher verlor, als gewann. Ungewohnt außerdem der Ordnung und geregelten Thätigkeit, ohne Lust und Geschick zu dem neuen ihm fremden Berufe, erfüllte er so wenig die Wünsche seines Vorgesetzten, daß er nach Kurzem entlassen wurde.

Von da ab wurde ein Krieg ohne Waffenstillstand und von einer beispiellosen Heftigkeit von Celestinen und ihrer Mutter gegen Gustave geführt. Das Haus wurde ihm zur wahren Hölle gemacht. Was er sagte, wurde entweder mit schmollendem Schweigen oder mit grollender Mißbilligung aufgenommen; was er verlangte, wurde verweigert; was er zurückwies, wurde ihm aufgedrungen. Nie trat ihm ein Lächeln, nie ein gütliches Wort, ein freundlicher Blick der Frauen entgegen. Und was er auch anwenden mochte, Sanftmuth oder Ungestüm, um sein Ansehen geltend, um den Feindseligkeiten ein Ende zu machen, blieb erfolglos. – Gereizt, gequält, müde gehetzt, verließ er das Haus, verließ er Weib und Kind.

Er trat auf einem Provinzialtheater als Sänger auf, fiel durch und wurde von der Direction fortgeschickt. Andere ähnliche Versuche auf Provinzbühnen lieferten dasselbe Ergebniß. Nach Paris zurückgekehrt, nimmt er eine Anstellung im Chore der großen Oper an, deren Ertrag aber nicht hinreicht, die dringendsten Lebensbedürfnisse zu decken. Er treibt sich in schlechter Gesellschaft herum, sinkt immer tiefer und tiefer. Nach einiger Zeit erfährt Celestine, daß er mit einer zweideutigen Frauensperson zusammen wohnt, und gründet auf diesen Umstand ihr Ansuchen um gerichtliche Scheidung von ihrem Manne, die denn auch erfolgt.

Ohne Energie, ohne Existenzmittel, aus dem Chore der großen Oper wegen Unpünktlichkeit gestoßen, ist Gustave auf den Erwerb durch Gesang auf den Straßen angewiesen, zu dem ihm aber die vorgeschriebene Befugniß fehlt. Schon ist die Polizei hinter ihm her, um ihn für die Uebertretung zur Rechenschaft zu ziehen.

Welches Ende steht dem Künstler bevor?




Hamburger Bilder

Von E. Willkomm.
Nr. 1. Hohes Wasser.

„Wenn es noch ein paar Stunden so fortweht, giebt es Hochwasser.“ Diese oder ähnlich klingende Worte hört man in Hamburg und weiter elbabwärts im Frühjahr, Herbst und Winter zu verschiedenen Malen. Selbst die Sommermonate bleiben nicht immer ganz davon frei. Der Bewohner des Binnenlandes fragt mit Recht: Was hat man darunter zu verstehen? Auch bei uns, und zumal in gebirgigen Gegenden, giebt es zuweilen Hochwasser, der Wind aber hat damit nichts zu schaffen. Plötzlich hereinbrechende

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_635.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)