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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Institute war der um den Ausbau der Methode so hochverdiente Magister Reich.

Im Jahre 1840 wurde das jetzige Gebäude errichtet, das, obwohl später um ein Stockwerk erhöht, für die gegenwärtige Anzahl der Zöglinge kaum hinreichenden Raum gewährt. Besonders fehlt ein großer Saal für die Andachten und Schulfeierlichkeiten. Vielleicht erstarkt der Fond des Instituts recht bald in einer Weise, daß diesem Mangel durch Bauen neuer Localitäten abgeholfen werden kann.

Beim Herumgehen im Anstaltsgebäude waren wir auch in ein Stübchen gekommen, das von meinem Begleiter die Modellkammer genannt wurde. Sie enthält die besten Arbeiten der Zöglinge. Es ist eine Hauptaufgabe der Anstalt, ihre Pfleglinge, besonders die weiblichen Geschlechts, erwerbsfähig zu machen. So ist für die Knaben, um sie zur Handarbeit geschickt zu machen, eine Tischlerei eingerichtet, und ein Tischlermeister – der jetzige ist selber taub – giebt ihnen wöchentlich zweimal Anweisung zu Holzarbeiten. Hier in der sogenannten Modellkammer sind die besten Holzarbeiten aufgestellt. Allerliebste Sachen! – So nett und sauber ausgeführt! – Auf großen Regalen stehen da Geräthe aller Art, sogar Thier- und Menschenfiguren. In einem besonderen Schranke sind die Papparbeiten aufbewahrt; ein Buchbinder kann’s nicht reinlicher und feiner machen.

Am meisten erregten die Näh- und Stickarbeiten meine Verwunderung. Die taubstummen Mädchen erlangen hierin im Institute eine solche Geschicklichkeit, daß sich die Meisten sofort nach der Entlastung aus der Anstalt dadurch selbstständig erhalten können. Die Knaben kommen nach der Entlassung zu irgend einem Meister – viele werden Tischler – der von der Regierung für diese Mühe 50 Thaler Lehrgeld erhält. Uebrigens haben, wie mir mein gefälliger Führer sagte, die Taubstummen schon als Gesellen das Recht, auf eigene Rechnung zu arbeiten.

Die meisten Taubstummen bleiben natürlich unverheiratet; doch ehelichen sie sich oft sogar unter einander, ohne daß aus solchen Ehen, wie man fast befürchten könnte, taube Kinder hervorgehen. In Leipzig leben mehrere solche Ehepaare recht glücklich, und die Kinder sind kerngesund; freilich ist die Kindererziehung mit großen Schwierigkeiten verbunden. So wurde mir erzählt, daß eine taubstumme Mutter, um zu erfahren, ob ihr Kind in der Nacht schlafe oder schrie – hören kann sie’s ja nicht – leise das Gesicht des Kindes betaste und so das Gehör gewissermaßen in den Fingerspitzen habe. Frühzeitig führt auch der Instinct die Kinder solcher Eltern zum Gebrauch der Pantomime.

Wir waren wieder im Wohnzimmer der Knaben angelangt. Einige größere Knaben schrieben, wie ich bei näherer Besichtigung fand, an selbstgearbeiteten Aufsätzen. Ich las sie durch – die Oberclasse einer mittleren Bürgerschule hätte sich solcher schriftlichen Ausarbeitungen nicht zu schämen brauchen.

„Aber wie ist es möglich, daß diese Gehörlosen zu solcher Sprachfertigkeit kommen können?“

„Diese Frage,“ erwiderte mein Begleiter, „würde sich leichter beantworten lassen, wenn Sie uns gefälligst während der Schulzeit besuchen wollten.“

Am andern Morgen, mit dem Beginn der Schule war ich wieder im Institute. Eigentlich ist, wie ich später erfuhr, die Anstalt nur Mittwochs und Sonnabends von 11 bis 12 Uhr dem Fremdenbesuche zugänglich; indeß dem, der sich tiefer mit ihrer Aufgabe beschäftigen will, öffnet sie ihre Thore gern zu jeder beliebigen Zeit. Die Zahl der taubstummen Schüler beträgt gegen hundert, welche in zehn Classen unterrichtet werden, so daß also auf einen Lehrer durchschnittlich zehn Schüler kommen, und damit hat er vollkommen zu arbeiten. Befremdend war es mir, daß sich fast immer zwei Classen in einer Stube befanden – wie mir erzählt wurde, unterrichten in manchen andern Instituten, und früher ist es hier auch so gewesen, sämmtliche Lehrer zu gleicher Zeit in einem großen Saale, ohne daß dadurch Lehrer und Schüler gestört werden. Jede Classe verfolgt ihr Ziel für sich. Sieht der Lehrer einmal die Augen seiner Zöglinge auf sich gerichtet, so ist er auch ihrer Aufmerksamkeit gewiß; denn alles Geräusch, alle andern Störungen gleiten spurlos an ihrem Ohr vorbei. Um unachtsame Schüler aufmerksam zu machen, pochen die Lehrer auf den Tisch, nicht etwa damit es der Schüler hört, er fühlt die Erschütterung und wendet schnell sein Auge dem Lehrer zu. Im eigentlichsten Sinne des Worts sah ich hier anschaulich unterrichten und glaube, daß die Elementarschule gar Manches in dieser Beziehung von der Taubstummenschule lernen könnte.

In den unteren Classen ist die Pantomime – Gebehrdensprache – das Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schüler. Schon im Elternhause braucht der kleine Taubstumme für die Dinge seiner Umgebung bestimmte Zeichen. Die Pantomime ist seine Muttersprache. Kommt er nun in das Institut, so eignet er sich schnell die dort gebräuchlichen, den seinen ähnlichen Zeichen an. Er hat gewissermaßen nur eine Dialektverschiedenheit zu überwinden. Man könnte die Pantomime recht eigentlich die Weltsprache nennen, durch die sich Jeder Jedem verständlich machen kann. Kommt ein Wanderbursch in ein fremdes Land, zuerst hilft er sich durch Zeichen. Und welches andere Mittel haben Seefahrer, wenn sie zu unbekannten Nationen kommen?

Jetzt zurück zu unsern Taubstummen. Mit Hülfe dieser Pantomimen bringt der Lehrer, welcher sie natürlich so gut wie seine Schüler verstehen muß, in das Seelenleben der Kleinen ein. Der Zögling sieht aber, daß seine ältern Schicksalsgenossen neben der Pantomime auch sprechen und schreiben können; er versucht es auch, und nun beginnt der Unterricht im Sprechen, die Bildung der Articulation. Das ist freilich eine höchst schwierige Aufgabe. Jeder Laut erfordert eine besondere Mundstellung. Der Lehrer zeigt nun dem Kleinen mit Hülfe des Spiegels genau die Sprachwerkzeuge, bewegt sie und fordert den Schüler auf, diese bis jetzt nur zum Essen gebrauchten Theile in gleicher Weise zu bewegen, damit er einige Herrschaft über sie bekomme.

Jetzt stellt der Lehrer den kleinen Taubstummen vor sich, giebt ihm die Mundstellung zum a, legt die eine Hand des Kindes auf seine Brust, die andere an seinen Kehlkopf und spricht nun mit voller, starker Stimme a. Der Schüler fühlt die Bewegung der Brust, das Zittern des Kehlkopfes, das Ausströmen des Luftstromes; er versucht’s nachzuahmen, und endlich gelingt es ihm, ein mehr oder weniger reines a herauszubringen.

So ist der erste große Schritt zum Sprechen gethan. O, u sind leichter für den Schüler. Die Zungenlage ist wie beim a, nur die Mundöffnung wird kleiner. Schwieriger sind e, i. Die Consonanten kommen an die Reihe; welche Schwierigkeiten sind da noch zu überwinden! Bei jüngern Taubstummen gelingt es in der Regel eine reinere Articulation zu bilden als bei schon älteren; da sind die Sprachwerkzeuge gewissermaßen noch nicht eingerostet, sie sind biegsamer, als bei jenen. Auch darf der Lehrer seine Schüler mit diesen Uebungen nicht zu sehr anstrengen, weil sonst leicht die Lunge, die bei allen Taubstummen mehr oder weniger abnorm ist, zu sehr angegriffen werden könnte. Hand in Hand mit der Bildung der Articulation gehen das Lesen- und Schreibenlernen.

Trotz aller Mühe, die es bisher gekostet, erkennt aber die Anstalt in der Articulation, in den Anfängen des Lesens und Schreibens nichts weiter als das Mechanische in der Grundlegung der Sprache. Allmählich gelangt der Schüler zu einfachen Worten – Rad, Schaf – als Zeichen ihm bewußter Gegenstände. Es ist nun ein Mittel genommen, sein Gedächtniß anzubauen. Er wird geübt, für jeden in der Wirklichkeit, im Bilde oder in der Pantomime gezeigten Gegenstand das Wort zu geben. Was er scharf und richtig articulirt hat, das schreibt er dann auch richtig, und daher kommt es, daß die Orthographie der Taubstummen fast immer ganz fehlerfrei ist.

Jetzt werden dem Schüler die einfachsten Eigenschaften gegeben, und er spricht schon im kleinen Satze – das Rad ist rund. Weiter lernt er das Verhältniß der Dinge zu einander in Worten ausdrücken – der Baum ist in dem Garten. Er lernt die gewöhnlichsten Bindewörter – und, oder etc. anwenden. Die gebräuchlichsten Zeitwörter werden ihm gegeben, und so wächst seine Sprache gleich einem Baume größer und immer größer. Conversation und Grammatik werden auf das Zweckmäßigste verbunden, um die Schüler in die deutsche, die schwierigste aller Sprachen, einzuführen.

Und die Erfolge sind staunenerregend. Nicht genug, daß ich mich mit den Schülern der obern Classen mündlich über die verschiedensten Gegenstände unterhalten habe, ich ließ sie auch kleine Aufsätze fertigen, deren Ausführung mich in Verwunderung setzte.

Man irrt ungeheuer, wenn man meint, die Taubstummen lernen nur mechanisch lesen und schreiben. Das ist das Wenigste; ich habe in manchen Volksschulen solche correcte Aufsätze nicht gefunden. – Wesentlich ist der Taubstummenunterricht Sprachunterricht,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 601. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_601.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)