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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

No. 38.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Des Kaufmanns Ehrenschild.

Dr. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


Die Augen des Mädchens hatten bei der ersten Frage erwartungsvoll aufgeblitzt. Bei dieser zweiten schlug sie sie enttäuscht, traurig nieder. Dann auf einmal erhob sie sie wieder, trotzig, entschlossen.

„Gleichviel. Der Signor ist doch ein Verbrecher. Mich hat er gestohlen. Rosenberg? Ich habe einen anderen Vater. Ich will bei dem Menschen, bei der Gesellschaft nicht langer bleiben.“

„Und wer wäre Dein Vater?“ fragte ich sie.

„Ich kenne ihn nicht. Der Signor hat ihn mir nie genannt.“

„Und Du behauptest doch, der Signor habe Dich gestohlen?“

„Ich weiß es.“

„Wann wäre es geschehen?“

„Als ich noch ein ganz kleines Kind war.“

„Du erinnerst Dich dessen noch?“

„Mein Herz sagt es mir.“

„Und weiter hast Du keine Beweise?“

Sie brach plötzlich in Thränen aus.

„Wie könnte ich Beweise haben? Er wird es nicht gestehen. Ach, mein Herr, Sie gehören zur Polizei oder zu den Gerichten; nehmen Sie sich meiner an, daß ich zu den Menschen nicht zurück muß. O, wenn ich Ihnen sagen könnte –!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. In dem Kinde war gewiß Vieles überspannt, durch Erzählungen Anderer, durch ihr eigenes abenteuerliches Leben. Aber war ihre Lage, ihr elendes Handwerk, ihr ganzes jetziges Leben nicht ein wirkliches, schweres Unglück für sie?

„Beruhige Dich, Kind,“ tröstete ich sie. „Ich werde sehen, was für Dich zu thun ist. Antworte mir jetzt noch auf einige Fragen, aber die volle Wahrheit. Der Signor war gestern Abend mit Euch Anderen hierher gegangen?“

„Ja, mein Herr.“

„Ging er nachher wieder fort?“

„Ja.“

„Wann war das?“

„Als Alle schliefen, als er es wenigstens meinte. Ich weiß auch, wohin er ging.“

„Du wüßtest das?“

Ich mußte und konnte sie so gleichgültig wie möglich fragen. Ich war im höchsten Grade überrascht, gespannt, aber ich durfte es ihr nicht zeigen; schon darum nicht, um nicht ihrer lebhaften, überspannten Phantasie und ihrem Hasse gegen den Seiltänzer Veranlassung zu Erfindungen oder Uebertreibungen zu geben.

„Ja,“ sagte sie, ebenso zuversichtlich, wie im Tone der Wahrheit. „Als wir vom Schlosse zurück waren, befahl der Signor mir, mich schnell umzukleiden und zum Schlosse zurückzueilen, aber nicht in das Schloß zu gehen, sondern mich in der Allee, die zur Chaussee führt, aufzustellen und dort auf einen Herrn zu warten, der aus dem Schlosse kommen werde. Es sei ein großer, hübscher Herr, in einem braunen Rocke, mit einem großen schwarzen Barte. Wenn der Herr komme, so sollte ich ihm sagen, der Signor erwarte ihn im Schloßpark an der Brücke, die über den Fluß führe. Weiter nichts. Ich solle dann gleich zurückkehren, aber keinem Menschen etwas sagen. Ich richtete meinen Auftrag aus, uns als ich zurückkam, war der Signor schon fort.“

Das war eine Mittheilung, die auf einmal ein Licht verbreitete, auf das ich nie hatte hoffen, das ich eine Minute vorher nicht hatte ahnen können. Und das Kind erzählte mit allen Zeichen der vollsten Wahrheit. Hatte ich danach nicht auf einmal den Mörder? Aber ich hatte noch Fragen an das Kind.

„Kam der Fremde allein aus dem Schlosse?“

„Ganz allein. Er schien eilig zu sein.“

„Um welche Zeit war es?“

„Ich hatte nicht sehr lange auf ihn gewartet. Es war schon dunkel geworden. Vielleicht war es neun Uhr.

“Was sagte der Herr, als Du ihm Deinen Auftrag ausgerichtet hattest?“

„Er werde kommen.“

„Wurde er nicht überrascht?“

„Nein. Es kam mir sogar vor, als wenn er so etwas erwartet hätte. Aber als er mich sah – ich war auf einmal hinter einem Baume hervorgetreten – meinte ich, daß er sich erschreckt habe. Und dann sah er mich mit so sonderbaren, durchbohrenden Augen an.“

„Und er sagte Dir sonst nichts, als daß er kommen werde?“

„Kein Wort. Er ging dann sogleich weiter.“

„Wohin?“

„Nach der Chaussee hin.“

„Und wo bliebst Du?“

„Ich kehrte auf dem geradesten Wege, an dem Park entlang, hierher zurück.“

„Hattest Du den fremden Herrn schon früher gesehen?“

„Niemals.“

„Der Signor war schon fort, als Du hier ankamst?“

„Ich sah ihn nicht mehr.“

„Hast Du ihn zurückkehren sehen?“


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_593.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)