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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Das Drama, von dem hier gesprochen wird, ist nichts Anderes, als der gegen Herrn Jules Mirès geführte Proceß. Kaum läßt sich’s entscheiden, wer in dem Schauspiel die kläglichste Rolle spielt, ob die Angeklagten, ob die Ankläger, oder die Richter. Fürchterlich erscheint jedenfalls, was in demselben als Fatum auftritt und Alles lenkt, Alles beherrscht, Alles erdrückt. Der vielbeneidete Speculant, der als „großes Muster“ „Nacheiferung“ weckte, dessen Erfolge die nach Gewinn lüsterne Generation reizten, den Arbeiter aus seiner Werkstatt, den Bauer von seinem Pfluge, den Concierge aus seiner Loge, den Beamten aus seiner Kanzlei, den Kaufmann aus seinem Laden, den Künstler von seiner Feder, seinem Meißel oder Pinsel, das Weib aus dem Heiligthume ihres Hauses, von ihren Kindern zu dem gefährlichen Spiele zogen, in welchem sie die redlich im Schweiße des Angesichts erworbenen Groschen, ihr eigenes Heil, ihre eigene Zukunft, das Heil und die Zukunft der Ihrigen einsetzten und verloren, dieser Speculant, welchem Tausende wie einem glänzenden Stern bewundernd folgten, wurde am 11. Juli wegen Betrugs und Mißbrauchs des Vertrauens zu fünf Jahren Gefängniß verurtheilt.

In der Begründung des strengen Spruches wird ihm zur Last gelegt, daß er Actien, welche in die von ihm geleitete Geldanstalt, die sogenannte „Allgemeine Eisenbahncasse“ als Unterpfand niedergelegt wurden, ohne Willen und Wissen der Besitzer zu hohen Preisen verkauft, daß er die Besitzer durch Ertheilung der von den Papieren entfallenden Interessen in dem Wahne erhalten hat, daß ihre Einlagen, die nicht mehr existirten, unangetastet geblieben, und sie erst dann von dem Verkauf in Kenntniß setzte, als die Actien im Werthe bedeutend gesunken waren, und dadurch, daß er ihnen diesen niedern Preis anrechnete, einen bedeutenden Gewinn erreichte. Ferner wird ihm zur Last gelegt, daß er gegen einen bloßen Empfangsschein Actien der Gesellschaft, deren Geschäfte er führte, aus der Casse nahm, sie verkaufte und wieder zurückkaufte und den durch diese Operation erzielten Gewinn, welcher der Gesellschaft gehörte, behielt, – daß er Einzahlungen auf Eisenbahnobligationen annahm, die nicht vorhanden waren, da die Unterzeichnungen zahlreicher, als die ausgegebenen Obligationen waren, – daß er endlich in den Jahren 1858, 1859 und 1860 den Actionären seiner „Caisse“ falsche Dividende, d. h. einen Gewinnst ertheilte, der nicht vorhanden, sondern vom Capital genommen war, wodurch die Actionäre und das Publicum irre geführt wurden.

Herr Mirès hätte sich besser vertheidigen können, als er es gethan hat, und statt die Ungesetzlichkeiten, die er sich zu Schulden kommen ließ, juristisch rechtfertigen zu wollen, hätte er seinen Richtern folgende Fragen stellen sollen: Bin ich nicht das natürliche Product der bestehenden Verhältnisse? Folgte ich nicht der vorherrschenden Moral, die den Erfolg höher stellt, als das Gesetz, die dem Gelingen, dem glücklichen Resultat das Recht zu Füßen legt und dem Sieg, wie er auch erfochten sein mag, den Preis ertheilt? Kann ich dafür, daß die Gesellschaft, geistig gelähmt und entwürdigt, gezwungen, alle höheren Bestrebungen aufzugeben, das Gebot beobachtete: Du sollst keine andern Götter haben neben dem Golde, und der als ein Heiliger verehrt wurde, der sich im Dienste des Goldes vor Allen hervorthat? daß man die Größe eines Menschen, wie in einer dahingeschwundenen Zeit einzig nach der Zahl der erlegten Feinde und der eroberten Waffen, nach der Zahl der erbeuteten Millionen maß? Steht es nicht in meinen Büchern verzeichnet und weiß man es nicht auch ohnedies, wonach die mit den höchsten Staatsämtern bekleideten Personen jagen? Kann von mir mehr Tugend, als von den Männern gefordert werden, welche das allerhöchste Vertrauen genießen und die Interessen der Nation in Händen haben? Mußte ich nicht denken, daß ich recht handle, da ich mit den Vertretern der Gesetze Hand in Hand ging? Wenn meine Ausweise unrichtig waren, meine Inventarien Ziffern anführten, die nicht ganz an ihrer Stelle waren: ahmte ich darin nicht dem officiellen Beispiele nach? Hat man nicht häufig an dem Staatsbudget das, was man das „Gleichgewicht“ nennt, bewundert, das doch lediglich einer glücklichen, aber freilich etwas willkürlichen Anreihung von Ziffern zu verdanken ist? Wirft man dem Crèdit mobilier, der von der Regierung beschützten und begünstigten Anstalt, nicht dasselbe vor wie mir? Hört man nicht auf der Börse, in den Rechenstuben, überhaupt in den Kreisen der Geldleute über Unrichtigkeit der Werthangaben schreien, so oft die Herren Pereire einen Ausweis über die Geschäfte der von ihnen vertretenen Anstalten liefern? Murrt man nicht überall und laut genug gegen die Geschäfte, die der Crèdit mobilier zusammen mit dem Seinepräfecten, Herrn von Haußmann, macht? gegen die Arbeiten, die sie zusammen in Paris ausführen, und von denen der größte Nutzen, wie geklagt wird, eben nicht der Stadt zufällt? Sollte es Ihnen nicht bekannt geworden sein, daß Herr Louis Lazare in dem von ihm redigirten Municipalblatte, Revue municipale, einen Artikel veröffentlichen wollte, in welchem er nachwies, daß die Arbeiten, die die Crèdit mobilier in Paris ausführen läßt, nach einem Plane vorgenommen werden, welcher sich auf dem Stadthause befindet, und welcher nur widerrechtlicher Weise von einer so hochgestellten Person, wie der Seinepräfect, mitgetheilt werden konnte? Hat die Sache dadurch ihre Bedeutung verloren, daß man den Redacteur höflichst ersuchte, den Artikel dem Feuertod oder mindestens dem Gefängniß in dem Schreibepulte zu überliefern? Warum ist die Gerechtigkeit in Frankreich auf der einen Seite nicht nur blind, sondern auch taub und stumm, und auf der andern Seite scharfsichtig, von feinem Gehör und redselig? Warum wiegt sie auf ihrer Wage mit ungleichem Gewicht? – Es wäre dem kaiserlichen Advocaten, der die Anklage zu unterstützen hatte, schwer geworden, auf diese Fragen zu antworten.

Herr Mirès (Jules) hat im December des Jahres 1809 zu Bordeaux das Licht der Welt erblickt. Vermögenlos, ohne ein Handwerk erlernt zu haben, ohne alle Kenntnisse, schleppte er sich seit seinem zwölften Jahre von Anstellung zu Anstellung, bis er 1841 den Weg aller Unzufriedenen, aller Glücksucher in Frankreich einschlug, den Weg nach Paris. Aber auch in der großen Stadt versuchte er Mancherlei ohne Erfolg. Erst gegen Ende des Jahres 1844 fand er an der Börse den geeigneten Schauplatz für seine Thätigkeit. Im Jahre 1848 kaufte er mit Herrn Millaud zusammen die Eisenbahnzeitung, wodurch er den Grund zu seinem Emporkommen legte. Von da ab nahmen sein Ruf und sein Reichthum zu. Große, kühne finanzielle und industrielle Unternehmungen folgten eine auf die andere, bis gegen Ende des Jahres 1860 das Unheil in der Form eines Processes über ihn hereinbrach. Sonnabend den 15. December (1860) wurden die Bücher in den Rechenstuben der Allgemeinen Eisenbahncasse gerichtlich versiegelt, und zwar in dem Augenblicke, als Herr Mirès im Namen der ganzen vertretenen Gesellschaft die Actien der abgeschlossenen türkischen Anleihe auszugeben im Begriffe stand.

Die gerichtliche Maßregel wurde durch einen Baron Pontalba herbeigeführt, welcher sich als Angeber im häßlichsten Sinne des Wortes darstellt. Es ist nicht zu berechnen, wie groß und heilig der Zweck einer Angeberei sein muß, um dieser den empörenden, widrigen Charakter zu benehmen. Die Angeberei des Herrn von Pontalba ist von der niedrigsten Art; denn sie entsprang unbestreitbar aus dem gemeinsten persönlichen Interesse.

Der Baron Pontalba ist ein adeliger Börsenspieler. Seine Mutter befindet sich im Besitze eines beträchtlichen Vermögens, das die kluge Frau aber durchaus nicht gesonnen ist, von ihrem Sohne verspielen und verprassen zu lassen, der bereits Millionen durchgebracht hat. Folgende Scene, von der man erzählt, ist am besten geeignet, den würdigen Baron Pontalba zu kennzeichnen.

Eines Abends vor Sonnenuntergang befindet er sich in dem Salon seiner Mutter. Mit einem Male verlangen Gerichtsdiener im Namen des Gesetzes Einlaß. Der Commissär, welcher sie führt, zeigt einen Verhaftsbefehl vor, ausgestellt gegen Herrn v. Pontalba, der Wechsel unterzeichnet hätte und die betreffenden Summen nicht bezahlen könne. Die Diener der Gerechtigkeit thun, was ihre Pflicht, und bemächtigen sich der Person des Schuldners. Dieser sinkt in Ohnmacht; Frau von Pontalba, wie sehr sie das Thun und Treiben ihres Sohnes mißbilligt, fühlt doch wie eine Mutter; geängstigt und ergriffen von dem Auftritt vor ihren Augen, bezahlt sie die Wechsel, die ihr Sohn ausgestellt hat. – Und darauf war es abgesehen. Herr v. Pontalba brauchte Geld und setzte dieses erbauliche Drama mit Hülfe eines Freundes in Scene, dem er Wechsel ausstellte und von dem er sich verfolgen ließ, um seine Mutter zu prellen. Dieser einzige Zug offenbart die hohe edle Sinnesweise des Mannes, welcher Herrn Mirès in’s Verderben gestürzt hat; die Art, wie er dieses Werk vollbringt, ergänzt auf’s Vortheilhafteste das Bild dieser anziehenden Menschengestalt.

Die „Eisenbahncasse“ des Herrn Mirès hat, wie jede ähnliche Anstalt ihren „Ueberwachungsrath“, der dazu bestimmt ist,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 553. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_553.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)