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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

„Ohne Sorge, Sir, sobald der Mensch nur weiß, was ihm bevorsteht.“

Es war wirklich schon eine halbe Stunde über zwölf, als die beiden jungen Männer den Weg nach dem entfernten fashionablen Stadttheile zurückgelegt hatten, und kein einiges Fenster in Frost’s Hause zeigte noch einen Lichtschimmer. Ohne indessen lange zu zögern, zog Reichardt kräftig die Klingel, mußte dies aber noch einige Male wiederholen, ehe sich in dem meist zu Dienstboten Wohnungen benutzten Unterbau des Hauses ein Fenster öffnete. „Wecken Sie sogleich den jungen Mr. Frost,“ sagte der Außenstehende in bestimmter Weise, „geben Sie ihm hier meine Karte und melden Sie, daß ich in dringenden geschäftlichen Angelegenheiten komme! “

„Mr. John Frost ist noch nicht zu Haus!“ klang es zurück.

„So wecken Sie den alten Herrn!“ rief Reichardt ungeduldig.

„Ich weiß nicht, ob ich darf, Sir!“ war die Antwort; eine Stimme aus dem Innern aber schien die Bedenklichkeiten des Sprechenden zu beseitigen, ehe der Angekommene zu einer neuen Antwort gelangt war. Das Fenster schloß sich; eine lange Weile aber verstrich, während Reichardt ungeduldig den kalten Vorplatz stampfte und mehr als einmal sich versucht fühlte, von Neuem die Klingel zu ziehen – der Kupferschmied aber, sich die Häuser im Laternenschein betrachtend, langsam auf dem Seitenwege spazieren ging – ehe sich die Thür aufthat und ein Gesicht sich vorsichtig herausstreckte. „Sind Sie allein, Sir?“ klang es; Meißner aber, welcher beim Oeffnen der Thür herangekommen war, nahm dem Befragten, der nicht sogleich zu wissen schien, was zu erwidern, die Antwort ab. „’s ist nur eine ganz vernünftige Vorsicht,“ rief er, „gehen Sie allein, Reichardt, und lassen Sie mich nur bald wissen, ob ich nothwendig bin!“

Reichardt schlüpfte kopfschüttelnd in das Haus; nach wenigen Minuten aber schon ward auch sein Begleiter von seinem Spaziergang abgerufen, und eine halbe Stunde später trat der Erstere allein wieder heraus, raschen Schritts durch die kalten Straßen den Heimweg suchend.

Reichardt verbrachte fast den ganzen Rest der Nacht ohne Schlaf in seinem Bette. Der alte Frost hatte nach der ersten Erregung, welche seine Mittheilung hervorgerufen, ihn mit einer Herzlichkeit behandelt, die ihm trotz des Dankgefühls, welches den alten Handelsherrn bewegen mochte, doch zu weit gegen seinen „jüngsten Clerk“ zu gehen schien, und die, so wohl sie ihm im Augenblicke, besonders in Gegenwart des Kupferschmieds, auch gethan hatte, doch jetzt von Neuem einen harten Kampf in ihm hervorrief. Er hatte Frost’s Vertrauen, von welchem John so Mancherlei wissen wollte, gerechtfertigt – was konnte ihm aber diese einfache Pflichterfüllung in seinen innern Kämpfen helfen? blieb er denn nicht trotzdem immer der, der er war? Fast erschien ihm die Gelegenheit, bei Fonsride’s Concerttruppe anzukommen, wie ein Rettungsanker vor der Versuchung, in seinen jetzigen Verhältnissen zu bleiben, die er immer mächtiger wiederkehren fühlte, sobald Margaret’s Züge neben des alten Frost’s wohlwollendem Gesichte und John’s launigen Mienen vor ihm aufstiegen; er begriff, daß nur ein männlicher, starker Entschluß ihn aus diesem Zwiste mit sich selbst, aus der immer wiederkehrenden Selbstqual reißen konnte – und als gegen Morgen endlich der Schlaf über ihn kam, stand es fest in ihm, schon am nächsten Tage seinen Austritt aus dem Geschäfte anzuzeigen.

Es war schon fast Mittag am nächsten Tage, und noch saß Reichardt allein im Cassenzimmer. Kurz nach seinem Eintritte hatte ihm einer der übrigen Clerks die Cassenschlüssel mit der Ordre überbracht, Bell’s Stelle während des Morgens zu versehen; aber auch weder von John noch von dessen Vater hatte sich etwas erblicken lassen. Reichardt fühlte sich so müde und abgespannt, daß er kaum einmal daran dachte, zu welchem Resultate wohl die Entdeckung des beabsichtigten Schwindels geführt haben möge; wohl versuchte er einige Male sich seinen Arbeiten zuzuwenden, aber seine Gedanken drehten sich nur immer um sein heutiges Ausscheiden und seine nächste Zukunft. Er war nicht nur völlig mit sich einig, sondern fühlte auch eine Ruhe, als liege Alles, was in ihm einer Erregung fähig war, erschlafft danieder.

Gegen Mittag endlich hörte er John’s rasche Tritte im vordern Zimmer und sah ihn gleich darauf bei sich eintreten. „Wissen Sie wohl, Sir,“ sagte dieser, die Thür schließend, „daß Sie der böswilligste Mensch sind, den ich kenne?“ Reichardt sah überrascht auf und blickte in ein lachendes Gesicht, das sich vergebens zu bemühen schien, den Ausdruck des Ingrimms nachzuahmen. „Ja, thun Sie nur verwundert,“ fuhr der Sprecher fort; „gestern Abend will ich Sie besuchen, muß Sie in einer wichtigen Angelegenheit sehen, und gerade an diesem Abend sind Sie ausgegangen; ich gehe an die verschiedensten Orte, um Sie zu finden, bleibe zum ersten Male nach jenem Abend im Astorhause über ein Uhr aus; und gerade währenddem kommen Sie mit einer so wichtigen Sache in unser Haus, daß ich mich hätte prügeln mögen, nicht meinem alten Papa zur Hülfe an der Seite gewesen zu sein. Ist das nicht die reine Bosheit von Ihnen, Sir? – O Sie Hauptkerl, geben Sie mir einen Kuß, Reichardt!“ rief er plötzlich, wie in ausbrechender Empfindung, und faßte den Deutschen bei beiden Ohren.

„Ist schon Alles gesichert?“ fragte dieser, etwas befremdet von der eigenthümlichen Erregtheit des Andern, die ihm selbst die Rettung des großen Capitals nicht ganz erklären wollte.

„Gesichert? was? Ah, die Versicherungssumme!“ rief der Amerikaner mit einem leichten Erröthen; „ob mir nicht im Augenblicke etwas ganz Anderes durch die Gedanken ging! Glücklich gesichert, Sir! wir hätten aber wohl keine Stunde später kommen dürfen! Es müssen von den Schlauköpfen schon bedeutende Summen auf die Seite geschafft worden sein, nur der heutige Tag war jedenfalls bestimmt, die Insolvenz der Gesellschaft zu erklären. Was wir mit unserer Beschlagnahme erlangt haben, wird uns und auch wohl den alten Black decken, dessen Interesse wir, als einfachen Act der Gerechtigkeit, mit vertreten ließen, Johnson aber mit seiner Getreidespeculation, an der sich sein Buchhalter, glücklicherweise unter eigenem Namen, betheiligt hatte, wird mit verschiedenen Anderen einen harten Schlag erleiden. Wir können es nicht ändern; warum ist er stets überall, nur nicht in seiner Office! Jetzt aber zu Anderem! – Schon Mittag?“ fuhr er sich unterbrechend fort, als in dem vorderen Zimmer das Geräusch der sich erhebenden Clerks laut wurde, „desto besser, so sind wir ganz ungestört. Sie essen heute bei uns, Reichardt, was ich Ihnen hiermit an Stelle jeder formellen Einladung mittheilen will und nun lassen Sie es uns eine halbe Stunde in Vaters Zimmer bequem machen; er wird den ganzen Tag nicht hier sein – kommen Sie!“ und damit wandte er sich, dem Deutschen voran, nach dem angedeuteten Raume, den der Letztere bis jetzt nur einmal und damals mit so ganz anderen Gefühlen betreten hatte.

Reichardt war bei der Einladung zum Mittagstisch blaß geworden und zögerte einige Secunden, che er dem Voranschreitenden folgte. Er wußte, daß jetzt der Augenblick da war, um den Entschluß, der über seine nächste Zukunft entschied, zur That werden zu lassen.

Als er das hintere Zimmer betrat, kam ihm John, sich mit der einen Hand eine Cigarre anbrennend und mit der andern dem Eintretenden die offene Havannahkiste hinhaltend, entgegen, und fast nur mechanisch griff dieser in den Vorrath.

„Dort sind Zündhölzer!“ rief der Erstere, nach dem eleganten Feuerzeug deutend, und warf sich dann in einen der Divans, „jetzt setzen Sie sich hierher und hören zuerst eine Neuigkeit!“

„Ein Wort vorher, Mr. Frost,“ sagte Reichardt, und der Ton seiner Stimme verrieth den Druck, unter welchem er sprach, „ich werde kaum Ihrer Einladung zum Mittagstisch folgen können – und,“ fuhr er mit einem tiefen Athemzuge fort, „ich möchte gleich die Gelegenheit wahrnehmen, um Ihnen zu sagen, daß ich mich entschlossen habe, wieder zu meiner frühern Beschäftigung als Musiker zurück zu kehren. Es bietet sich mir gerade jetzt eine passende Chance dafür, und wenn Sie Mr. Frost bitten wollten, mich ohne jede weitere Frage, die mir aus mancherlei Gründen nur peinlich werden müßte, zu entlassen, so würden Sie mir einen Freundschaftsdienst erweisen, der mich Ihnen zu jedem Danke verpflichtete.“

John hatte sich langsam aufrecht gesetzt, seine Augen schienen mit jedem Worte des Sprechenden größer zu werden, bis er, als Reichardt geendet, diesen regungslos mit offenem Munde anstarrte. Plötzlich aber schnellte er in die Höhe und legte seine Hand auf des Andern Schulter. „Das ist doch unter allen Umständen nur ein toller Spaß, Sir!“ rief er, „und ich muß Ihnen sagen, daß es ein schlechter ist –“

„John, ich bitte Sie herzlich, machen Sie mir das, was geschehen muß, nicht noch schwerer,“ unterbrach ihn Reichardt fast

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_514.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)