Seite:Die Gartenlaube (1861) 507.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Maßstab für dieselben ab. Dieser Schluß aber wird noch berechtigter, wenn man ihn auf die Classen beschränkt, um welche es sich eigentlich handelt, und welche trotz der überaus günstigen Lebensverhältnisse der begünstigten Stände und der Landbevölkerung jene ungünstigen Ziffern veranlassen. Es sind dies die Proletarier der großen Städte und der Fabrikbezirke.

Mögen nun die Zustände dieser Classen in England wirklich schlimmer sein als anderswo oder bei der großen Oeffentlichkeit der dortigen Verhältnisse nur bekannter sein, jedenfalls haben die Engländer zuerst das richtige Mittel dagegen ergriffen, indem sie eine Reform des Erziehungswesens angebahnt haben.

Bei diesem Wort aber muß man nicht, wie es aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit oft geschieht, blos an die öffentliche Erziehung, an die Schule, denken, sondern wohl berücksichtigen, daß außer dem Geist, welchen die Schule in Pflege nimmt, auch ein rüstiger, gesunder Körper und ein edler, willensstarker Charakter gezogen werden muß, bis ein ganzer Mensch fertig ist, und daß diese wichtigste Hälfte der Erziehung die Aufgabe des Hauses, der Familie ist.

In der Erkenntniß, daß ein gesunder Körper der unentbehrliche Boden ist, auf welchem allein die edlen Früchte des Strebens und Denkens gedeihen können, und „daß der bei weitem größte Theil von Schwächlichkeit, Krankheit und vorzeitiger Sterblichkeit aus vermeidbaren Ursachen entspringt“, hat sich nun ein Verein in England gebildet, welcher die Hauptgrundsätze der Gesundheitspflege zum Gemeingut des Volkes, besonders der niederen Classen desselben, welche dieser Kenntniß noch am meisten entbehren, zu machen sucht. Dieser Verein nennt sich Ladies’ sanitary association, besteht hauptsächlich aus hochstehenden Frauen, so wie Aerzten (unter denen unser Landsmann Dr.Roth eine hervorragende Stelle einnimmt) und Menschenfreunden verschiedener Stände, und hat im verflossenen Jahre seinen dritten Jahresbericht ausgegeben.

Die Mittel, deren sich der Verein zur Erreichung seiner Zwecke bedient, sind seinem Programm nach folgende:

„1) Die Abfassung und Veröffentlichung interessanter, einfach geschriebener Abhandlungen über alle Gegenstände, welche die Erhaltung der Gesundheit betreffen. Die Mehrzahl derselben wird hauptsächlich für die Armen geschrieben. Frauen übernehmen bezirksweise die Sorge für Verbreitung und Befolgung dieser Anleitungen.

2) Die Errichtung von Leihbibliotheken interessanter, volksthümlicher Bücher über alle Gegenstände der Gesundheitspflege.

3) Die Veranstaltung populärer Vorträge über Gesundheitspflege.

4) Die Errichtungen von Anstalten, in welchen Lehrerinnen und Lehrer, die an Schulen für die arbeitenden Classen angestellt sind, einen theoretischen und praktischen Unterrichtscursus über alle Gegenstände der Gesundheitspflege durchmachen können, um diese Wissenschaft ihren Schülern lehren zu können. Auf diese Weise würden Schulmädchen, die künftigen Frauen und Mütter der arbeitenden Classen, eine Unterweisung erhalten, welche, obgleich Allen nothwendig, gegenwärtig nur im Besitz Weniger ist. Auch würden Classen für Privat-Lehrerinnen und andere Damen gebildet werden. Besondere Aufmerksamkeit würde dem Unterricht in der Pflege der Säuglinge und Kinder, als einer der wichtigsten Pflichten des Weibes, gewidmet werden. Um diesen Theil des Unterrichts vollkommen praktisch zu machen, beabsichtigt man, einige Waisenkinder in den Anstalten zu erziehen. Damit würden Schullehrerinnen Gelegenheit haben, eine völlig praktische Kenntniß aller auf die kindliche Gesundheit sich beziehenden Dinge zu erlangen, und durch sie würde diese Kenntniß den arbeitenden Classen mitgetheilt werden, welche gegenwärtig wenig Gelegenheit haben, solche zu erlangen, ausgenommen durch theuer erkaufte Erfahrungen oder durch Bücher, welche sie in vielen Fällen weder Neigung noch Mittel zu kaufen noch Verständniß zu begreifen haben. Es wird beabsichtigt, zu diesem Theil des Unterrichts Kindermädchen zuzulassen, und der Verein hofft dadurch verständig gezogene Kindermädchen zu liefern, denen Kinder sicher anvertraut werden können. Geistliche, Aerzte und Alle, welche sich für gesundheitliche Reform interessiren, werden dringend ersucht, ihren Einfluß zur Errichtung solcher Anstalten in Verbindung mit Zweigvereinen in ihren Wohnorten zu verwenden.

Der Verein ist ganz auf freiwillige Beisteuern angewiesen und bittet dringend um den Beistand Aller, welche sich für seine Bestrebungen interessiren.“

In Bezug auf den ersten Punkt ist der Verein rüstig vorgegangen. Die erste Serie von Schriftchen, welche auf seine Veranlassung speciell zur Vertheilung unter die Armen geschrieben sind, führen folgende Titel: „der Werth der frischen Luft“; „der Gebrauch des reinen Wassers“; „der Werth guter Nahrung“; „der Einfluß gesunden Getränks“; „der Vortheil warmer Kleidung“; „die Gesundheit der Mütter, mit Zeichnungen von neuen Schnitten zu Kinderkleidern“; „wie ein Kind zu behandeln ist“; „die Macht von Seife und Wasser“; „wann bist du geimpft?“ „der wohlfeile Arzt, ein Wort über frische Luft“. Aus der zweiten Reihe sind folgende Schriften angeführt: „Bemerkungen über die Aufgabe des Weibes bei gesundheitlicher Reform“; „die Gesundheit des Kirchspiels und die Wohnungen des Volks“; „die Tödtung der Unschuldigen“.

Die Mehrzahl dieser Schriftchen, jede zu ungefähr 30 Kleinoctavseiten, kostet 2 Pence das Stück, 12 – 16 Schilling das Hundert, für Vereinsglieder 9–12 Schilling. Zufolge des dritten Jahresberichts sind vom Verein seit seiner Gründung 76500 Exemplare davon ausgegeben worden.

In den Abhandlungen ist der volksthümliche Ton in vorzüglicher Weise getroffen, d. h. sie geben in anziehender, verständlicher Form ihre Rathschläge, wie sie ein verständiger, gereifter Mann dem Unerfahrenen giebt, dem Gedankenkreis und den Verhältnissen desselben entsprechend. Wo die Anschauungen von den unsrigen abweichen, wollen wir uns mit einem Hinblick auf die Sitten und Gewohnheiten des Landes beruhigen; es können sich aber viele deutsche Volksschriftsteller ein Muster nehmen an der praktischen Behandlung der Gegenstände, wie sie uns hier vorliegt. Auch zu Vorlesungen in öffentlichen Versammlungen könnte ein Theil dieser Schriften ohne Weiteres benutzt werden; es ist somit durch sie auch denen, welche nicht selbst derartige Vorträge ausarbeiten können, Gelegenheit geboten, durch Belehrung des Volks über Gesundheitspflege segensreich zu wirken.

Es ist nur eine natürliche Folge dieser glücklichen Wahl und Behandlungsweise des Stoffes, wenn die Jahresberichte von den vorzüglichen Erfolgen und der allgemeinen Beliebtheit der Schriftchen zu erzählen haben. Selbst in Ungarn hatten dieselben Propaganda gemacht, desgleichen in Amsterdam und Hobart-Town (Tasmania).

Vorlesungen über Gegenstände der Erziehungs- und Gesundheitslehre, zum Theil öffentlich, zum Theil ausschließlich für Damen oder Lehrerinnen, wurden auf Veranlassung des Vereins an vielen Orten gehalten, auch unter ärztlicher Aufsicht eine Abtheilung von Lehrerinnen in der Ling’schen erzieherischen Gymnastik praktisch unterwiesen.

Eine Leihbibliothek im Vereinslocal war zwar noch in der Bildung begriffen, aber dennoch bereits lebhaft benutzt. Der Verein hofft für dieselbe, auf derartige Erfahrungen gestützt, auf reichliche Schenkungen von Seiten der Schriftsteller und Verleger und wünscht sie zu einer Sammlung aller guten Bücher über öffentliche und private Hygieine zu machen.

Die Bildungsanstalt für Kinderwärterinnen war aus Mangel an hinreichenden Mitteln noch nicht ins Leben getreten.

Wenn der Verein mit der bisherigen Energie in seiner Wirksamkeit fortfährt und der Wichtigkeit seiner Zwecke entsprechend an Ausdehnung zunimmt, muß er ein wahrer Segen für die englische Bevölkerung werden. Er faßt die socialen Uebel bei der Wurzel; und wenn es auch zumeist erst die nächsten Generationen sind, denen seine Bemühungen zu gute kommen, so ist dieser Erfolg um so sicherer und nachhaltiger.

Ein Hauptvorzug des Vereins ist der, daß er wesentlich aus Frauen besteht. Es ist überaus erfreulich, wenn Frauen sich in einer ihnen angemessenen Sphäre eine öffentliche Wirksamkeit bilden; erfreulich, nicht nur weil sie uns ein Stück Arbeit abnehmen, sondern auch weil sie diese Arbeit wahrscheinlich erfolgreicher treiben. Dies ist ganz unbestreitbar hier der Fall, wo es gilt, Frauen zu reformiren. Es ist bekannt, wie abweisend, mißtrauisch, oder wenigstens schwerfällig ein großer Theil des weiblichen Geschlechts sich allen Neuerungen gegenüber verhält, sobald dieselben nicht Mode oder Comfort betreffen, wie hartnäckig sie den größten Autoritäten und augenscheinlichsten Erfolgen gegenüber an den Ueberlieferungen ihrer Mütter und Großmütter festhalten. Wenn aber, wie hier, die Neuerer im eignen Lager sind, dann ist allerdings einige Hoffnung vorhanden, daß – zwar nicht eine Revolution, welche gar nicht erwünscht wäre – aber eine Evolution, eine allmähliche Umgestaltung

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_507.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)