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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Erfurt war eine schöne, starke Festung. Hundertundzwanzig Kanonen, alle in gutem Stande, blickten drohend von den Wällen herab. Mit Munition war die Festung reichlich versehen, und die großen Magazine in ihr waren gefüllt. Vierzehntausend Preußen warfen sich in sie, an ihrer Spitze der Prinz von Uranien, der Feldmarschall Möllendorf, die Generäle Larisch, Grawert, Lissan und Zweifel. Dem überlegensten Feinde hätte sie tage- und wochenlang erfolgreich Trotz bieten können. Ueberdies hatte die Festung noch durch den Petersberg und die Cyriaksburg zwei sehr starke Stützpunkte.

Bereits am Morgen des 15. Octobers umzingelte der Großherzog von Berg Erfurt. Waren seine Truppen auch an Zahl bedeutend der Besatzung überlegen, so waren sie doch von den starken vorhergehenden Märschen und namentlich von der Schlacht am Tage zuvor erschöpft. Außerdem führten sie kein grobes Belagerungsgeschütz mit sich. Die Festung hatte nichts zu befürchten, denn ein Sturm auf die wohlerhaltenen Mauern wäre ebenso thöricht gewesen, wie er erfolglos geblieben sein würde. Der Großherzog von Berg dachte auch nicht an eine ernstliche Belagerung, die ihn vielleicht wochenlang an diesen Platz gefesselt haben würde, durch Capitulation hoffte er sich in den Besitz der Festung zu setzen, um dann mit seinen Truppen ungesäumt die einzelnen Theile des zerstreuten preußischen Heeres zu verfolgen und aufzureiben, ehe sie Zeit gewännen, sich wieder zu sammeln und zu vereinigen.

In der Stadt herrschte die größte Verwirrung und Furcht. Die Soldaten waren zum großen Theil erbittert und zeigten Lust, sich trotz der am Tage zuvor erlittenen Niederlage auf’s Aeußerste zu vertheidigen oder durchzuschlagen. Ein Theil der niederen Officiere stand auf ihrer Seite und begriff, wie unendlich viel für Preußens Wohl und Rettung davon abhing, wenn der Feind durch Belagerung der Festung außer Stand gesetzt wurde, die einzelnen Theile des preußischen Heeres zu verfolgen, und diese Zeit gewannen, sich zu vereinen. Aber die Führer hatten Kopf und Besinnung verloren. Der Commandant der Festung wie der Citadelle, der Major Karl von Prüschenek, war so verwirrt durch die Furcht und so muthlos, daß er selbst die geringsten Vorkehrungen zu treffen versäumte. Und keiner der in der Stadt anwesenden Generäle trat ihm unterstützend zur Seite – sie waren ebenso muthlos wie er selbst. Die Rettung des Vaterlandes vergaßen sie bei dem Gedanken an ihre eigene Gefahr, so gering diese auch war.

Schon am Nachmittage schickte der Großherzog von Berg einen Parlamentär in die Festung, um sie zur Uebergabe aufzufordern. Der Commandant rief einen Kriegsrath zusammen, an welchem die ersten Generäle, welche sich in der Stadt befanden, Theil nahmen. Die schmachvollste Furcht beherrschte ihre Gemüther, sie schützten die vielen Verwundeten vor, welche sich in der Stadt befanden, hielten die Festung zu schwach besetzt, obschon sie an zehntausend kampffähige Mann in sich barg, und kein Einziger im Kriegsrathe besaß Muth genug, eine Uebergabe mit Entschlossenheit und Verachtung zurückzuweisen und die Andern an ihre Pflicht und Ehre zu erinnern, welche ihnen gebot, die Festung bis auf das Aeußerste zu vertheidigen. Der Commandant stimmte zuerst für die Uebergabe, und Alle sannen nur darauf, die günstigsten Bedingungen zu erhalten.

Der französische Oberst Preval war als Parlamentär in die Stadt geschickt und er selbst war erstaunt, als er die Mittheilung erhielt, daß die Festung capituliren wollte. Die Verwirrung und Muthlosigkeit hatte einen so hohen Grad erreicht, daß er sogar, was nirgends Sitte war, mit unverbundenen Augen durch die Stadt auf die Citadelle geführt wurde. Er hatte Gelegenheit genug gehabt, sich auf diesem Gange von der Stärke der Festung zu überzeugen. Er erhielt die Bedingungen, unter denen die Festung sich übergeben wollte, und da er nicht Vollmacht besaß, dieselben zu genehmigen und zu unterschreiben, kehrte er mit denselben zu dem Großherzog von Berg zurück, um ihm dieselben vorzulegen.

In der Eile des Kriegsraths hatte man folgende Hauptpunkte als Bedingungen aufgesetzt: 1) Die Besatzung solle am 17. October mit allen Kriegsehren, mit Waffen, Effecten und Gepäck, die Bataillonsstücke, Feldbatterien, Bäckerei und Armeetrain mit eingeschlossen, ausziehen. Sie soll mit klingendem Spiel, fliegenden Fahnen und brennenden Lunten nach Halle marschiren.

2) Die verwundeten Officiere, Unterofficiere und Soldaten, welche sich in der Stadt befinden, sollen unter dem ersten Artikel mit inbegriffen sein. Die Transportirungsunfähigen bleiben auf Kosten Sr. preußischen Majestät zurück; sobald sie geheilt sind, kehren sie mit Pässen zu ihren Corps zurück.

3) Um die Mittagszeit des folgenden Tages solle das Johannisthor übergeben werden und von außen besetzt werden, am innern Thor indeß so lange preußische Wache bleiben, als preußische Besatzung in der Festung sei.

4) Da die Effecten der zur Besatzung gehörenden Personen nicht sofort fortgeschafft werden konnten, so solle ein Termin von drei Monaten dafür anberaumt werden.

In ängstlicher Erwartung harrte der Commandant und der Kriegsrath der Wiederkehr und der Antwort des Großherzogs von Berg. In der Festung hatte sich unter den Soldaten das Gerücht, daß die Festung übergeben werden solle, verbreitet und bei den meisten den größten Unwillen hervorgerufen. Eine Anzahl Soldaten eilte sogar vor das Thor der Citadelle, um von dem Commandant eine Erklärung zu verlangen und ihm die Erklärung zu übergeben, daß sie sich in eine so schmachvolle Capitulation nicht fügen würden. In die Citadelle selbst wurden sie nicht eingelassen.

Es war Abend geworden, als der Oberst Hippolyt Preval mit dem Bescheid des Großherzogs und der Vollmacht zur Unterschreibung der Capitulation in die Stadt zurückkehrte. Ganz im Stillen, um den Soldaten das Vorhaben zu verheimlichen, wurde er auf die Citadelle geführt. Der Kriegsrath wurde auf’s Neue versammelt. Der Großherzog von Berg hatte aus der Muthlosigkeit seiner Feinde erkannt, daß er Alles von ihnen verlangen könne, und hatte die Bedingungen der Uebergabe verschärft. Die Thore der Festung sollten sogleich für die französischen Truppen geöffnet werden, und schon am Mittag des folgenden Tages, am 16. October, sollte die Besatzung mit Waffen, Gepäck, fliegenden Fahnen und den Bataillonskanonen ausziehen, aber auf dem Glacis der Festung die Waffen niederlegen und kriegsgefangen bleiben. Die Officiere sollten ihre Degen und Gepäck behalten, nach Preußen zurückkehren, indeß ihr Wort geben, bis zur Auswechslung nicht zu dienen. Transportmittel für sie und ihr Gepäck sollten ihnen verschafft werten. Die verwundeten Officiere, Unterofficiere und Soldaten sollten unter dieser selben Bedingung stehen, für ihre Pflege sollte man sich auf die französische Großmuth verlassen.

Diese zum Theil so schmachvollen Bedingungen waren selbst den meisten Generälen zu hart, und sie protestirten dagegen und suchten mildere zu erringen. Der französische Bevollmächtigte erwiderte, nicht mehr bewilligen zu dürfen. Da drängte der Commandant Karl von Prüschenek zur Annahme derselben. Er schien nicht frei aufathmen zu können, so lange er sich in der Nähe des Feindes befand. Der Gedanke an eine Belagerung, vielleicht gar an einen Sturm auf die Stadt raubte ihm fast die Besinnung. Was kümmerte es ihn, ob sein König durch ihn mehr denn 10,000 brave Soldaten einbüßte? was kümmerte es ihn, daß sie dem französischen Hochmuthe und Spott preisgegeben wurden, daß sie gezwungen werden sollten, in den Reihen ihrer Feinde vielleicht gegen ihr eigenes Vaterland zu kämpfen? er kam mit unverletzter Haut davon, selbst sein Eigenthum wurde nicht angetastet. Vielleicht hatte er gar auf eine Belohnung des Kaisers für seine bereitwillige Capitulation einer so starken und wohlversorgten Festung zu hoffen.

Abends 11 Uhr, während Tausende in der Stadt keine Ahnung davon hatten, welche schmachvolle That auf der Citadelle vor sich ging, wurde dort die Capitulation von Karl von Prüschenek und Hippolyt Preval unterzeichnet. Preußen hatte eine wichtige Festung verloren, ein schwarzes Blatt war für immer in Preußens Geschichte eingeschrieben, das Leben von Tausenden braver Krieger war durch diesen einzigen Schritt dem Verderben preisgegeben. Am folgenden Mittag zog die ganze Besatzung aus. Auf dem Glacis mußten sie die Waffen niederlegen. Manches Herz blutete, in dem Auge manches Soldaten standen Thränen des Schmerzes und der Verzweiflung, mancher zerbrach die Waffen, die er mit Ehren bis dahin getragen und die er nun niederlegen mußte, weil seine Führer aufgehört hatten, Männer von Ehre zu sein.

Die Kunde von dieser schmachvollen Capitulation der Festung und Citadelle Erfurt, auf deren Widerstand Viele so zuverlässig gebaut hatten, und die von der größten Wichtigkeit war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Umgegend und erregte die allgemeinste Entrüstung. Eine That rief sie aber hervor, welche neben diesem düsteren Flecken wie ein helles Licht erglänzte, welche zeigte, daß es an tapferen Männern und unerschrockenen Herzen

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