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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ein deutscher Zeitungsschreiber.


A. Bernstein.


Die in Berlin erscheinende Volkszeitung ist bekanntlich das in Deutschland am meisten gelesene politische Organ, da sie in einer Auflage von mehr als 26,000 Exemplaren erscheint. Wer diese Zeitung kennt, weiß es, daß sie ihre große Verbreitung nicht dem Reichthum literarischen oder politischen Materials, sondern vorzugsweise dem Inhalt ihrer Leitartikel verdankt, die ein eigenthümliches geistiges Gepräge an sich tragen.

Diese Eigenthümlichkeit besteht in einer durchsichtigen Klarheit und Einfachheit der Darstellung, welche sich mit einem so großen Scharfsinn und so tiefer Auffassung der Ereignisse paart, so sehr in den Organismus der Erscheinungen dringt und ihre Lebensgesetze offenbart, daß sie sich dadurch gänzlich von der gewöhnlich sogenannten Popularität unterscheidet.

Die Leitartikel tragen einen Talisman in sich, welcher unwiderstehlich ist; sie überzeugen, sie sprechen zu Sinn und Herzen des unstudierten Mannes; sie rücken den Gegenstand in seine unmittelbare Nähe, entkleiden ihn von altem falschen Beiwerk, welches Unverstand oder Parteisophistik ihm angehängt haben, und zergliedern dann mit unwiderleglicher Logik Schritt für Schritt, Satz für Satz, die ganze Frage in alle ihre Bestandtheile, kurz, bündig, handgreiflich, so daß der Leser am Schlusse das Facit selbst ziehen muß und ausruft: der Mann hat Recht – das ist sonnenklar! Er trifft eben immer den Nagel auf den Kopf. Und wo es angebracht ist, trifft er nicht blos, sondern mit einer prächtigen Wendung, mit beißender Ironie, mit zündendem Witz zermalmt er seine Gegner. Es ist bezeichnend für den Ton dieser Artikel, daß sie mit gleichem Interesse vom Kutscher auf dem Bocke und von dem Tagelöhner, wie von den gebildetsten Ständen gelesen werden, welche von den abgestandenen Leitartikeln der monotonen Doctrinairs großer politischer Zeitungen, bei diesen geharnischten und gleichsam aus der Pistole geschossenen Artikelchen Erholung und Anregung suchen.

Da sich die durchsichtige Klarheit und Einfachheit der Darstellung in den verschiedensten Gebieten immer gleich bleibt, so muß es allen Lesern der Zeitung längst klar geworden sein, wie diese Leitartikel sammt und sonders das Erzeugnis eines Mannes sein müssen, in welchem sich seltene Geistesgaben vereinigen. Wenn wir versichern, daß dem so ist, daß die geistige Productionskraft, die so viel gewirkt, die sich schon seit länger als einem Jahrzehnt täglich bewährt, sich noch immer in ihrer Frische erhalten hat, wenn wir hinzufügen, daß weder revolutionaire Schmähungen noch reactionaire Verfolgungen den eigenthümlichen geistigen Stempel dieser Leitartikel abzuschwächen vermocht haben, so werden unsere Leser es natürlich finden, daß wir den Wunsch hegen, den Verfasser dieser Arbeiten ihnen im Bildniß und Lebensabriß vorzuführen. Denn trotzdem, daß sein Name vollgültigen Anspruch hat, in der ersten Reihe derer genannt zu werden, welche als die bewährtesten Vorkämpfer für die politische Freiheit und Selbstbestimmung der Nation in Aller Munde leben, ist er der bei weitem größten Mehrzahl von Lesern, welche aus seinen Artikeln nunmehr seit länger als zehn Jahren täglich Belehrung, Anregung und Erhebung schöpfen, gänzlich unbekannt. Niemals hat sich der Verfasser der Leitartikel genannt, und nur diejenigen, welche sich speciell um die Zeitungsangelegenheiten kümmern, kennen den Namen des Ehrenmannes.

Was wir nachstehend von dem Lebensgange Bernstein’s mittheilen, verdanken wir den Notizen einiger seiner Freunde – daß das Material, welches uns zu Gebote steht, ein nur spärliches ist, hat seinen Grund einmal in der Bescheidenheit des Mannes,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 453. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_453.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2023)