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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Freund Reichardt,“ wandte er sich dann an den Deutschen, „ich denke, wir werden in eine ähnliche Gefahr nicht wieder gerathen; die Lehre, welche uns Mr. Bell zu geben gedachte, war sicherlich gut gemeint, wenn auch herber, als sich sonst mit der christlichen Liebe verträgt!“ Er nickte dem jungen Manne zu und verschwand in dem vorderen Zimmer. Bell blickte, den Kopf hoch aufgerichtet, blaß und starr vor sich hin; Reichardt aber sah plötzlich den Gedanken bestätigt, welcher ihm schon vorher gekommen, daß der Cassirer es gewesen sei, welcher die Aufhebung des Spielzimmers veranlaßt, und das Nachfolgende gab ihm die völlige Gewißheit.

„Ich weiß nicht,“ begann der Cassirer nach einer kurzen Pause steif, „wodurch der junge Mann zu einer Annahme, wie die ausgesprochene, berechtigt ist; es fällt mir aber auch gar nicht ein, eine That zu leugnen, die für jeden gewissenhaften Menschen in meiner Stellung zur Gewissenspflicht wird, sobald er den Verderb dessen, was ihm zum großen Theile anvertraut ist, vor Augen sieht. Ich habe beobachtet monatelang, ich bin selbst zum Oeftern in diesem Locale gewesen, in welchem die reichen jungen Leute zu künftigen Bankerotteurs vorbereitet und die ärmeren zu Betrügern an ihren Prinzipalen, zu Fälschern und Zuchthaus-Candidaten gemacht werden; ich habe dennoch nicht eher etwas thun mögen, bis ich sah, daß eine junge Seele, die mir nahe stand, von welcher sich so manches Gute erwarten ließ, in den allgemeinen Canal zum Verderben hineingezogen werden sollte – yes, Sir!“ fuhr er mit Selbstbewußtsein fort, „ich bin es gewesen, welcher der Polizei die Angaben über die Vorgänge im Astorhause gemacht und ein energisches Einschreiten gefordert hat; Sie haben sich selbst vor den Folgen bewahrt, und ich habe mich mehr darüber gefreut, Sir, als Sie selbst wissen können; aber auch im andern Falle würde ich dafür gesorgt haben, daß Sie von der Lection nicht weiter als nothwendig betroffen worden wären.“

Reichardt fühlte eine Art Mitleiden mit dem Manne, der plötzlich in die Lage versetzt war, sich gegen ihn rechtfertigen zu müssen; zugleich aber lehnte sich auch sein Stolz gegen diese heimliche Bevormundung, welche sich ihm plötzlich zeigte, auf. „Ich habe keine Verantwortung Ihrerseits gefordert, Mr. Bell, und Sie mögen in jeder Beziehung Ihrem Gewissen nach gehandelt haben,“ sagte er in einem Tone voller Bescheidenheit, „ich möchte nur, daß Sie daran gedacht hätten, wie wenig der Mensch das Schicksal eines andern Menschen in der Hand hat. Glauben Sie denn wirklich, ich hätte wieder einen Fuß auf meinen jetzigen Platz, der mir mit so viel Vertrauen übergeben worden, gesetzt, wenn ich in einer Weise compromittirt war, wie es hätte geschehen können? Glauben Sie mir, Mr. Bell, der Mensch soll nie Vorsehung spielen wollen.“

Ein eigenthümliches Mienenspiel begann jetzt in dem Gesicht des Amerikaners, bis seine Züge nach und nach fast den Charakter einer Art von Zerknirschung annahmen. „Sie haben Recht, junger Mann, Sie haben nur zu Recht, der Mensch überhebt sich nur zu leicht und er soll sich nicht schämen, es einzugestehen. Wir werden aber darüber noch mehr sprechen. Ich hoffe, Sir, Sie werden mir doch die Freude machen, das Mittagsbrod mit mir zu theilen.“

„Ich habe durchaus keinen Grund, warum ich es nicht sollte, Sir!“

„Danke Ihnen, Sir,“ war die Antwort, mit welcher sich der Cassirer sichtlich zufrieden seiner Arbeit wieder zuwandte.

Fast wortlos hatte am Mittage Bell den jungen Deutschen seiner Wohnung zugeführt, und der Letztere, welcher der sonderbaren Haltung seines Vorgesetzten gegenüber kaum wußte, welchen Ton er anschlagen solle, fühlte sich erleichtert, als er sich sogleich nach dem Speisezimmer an den wartenden Mittagstisch geführt sah.

„Ich bringe meinen jungen, aber würdigen Freund Reichardt, dem wir gestern Abend großes Unrecht gethan, als Gast mit,“ sagte der Cassirer zu der harrenden Lady, „und ich denke, er wird uns auch in der Zukunft dann und wann seine Gegenwart schenken!“ Reichardt verbeugte sich leicht, wenn ihm auch die ausgesprochene Hoffnung etwas wunderlich vorkam, und haschte nur im Fluge einen Blick der Wirthin, der bei Bell’s Worten wunderbar aufgeleuchtet war. Der Cassirer wies dem jungen Manne seinen Platz an, wie auch seine ganze übrige Weise viel mehr die des Hausherrn als die eines einfachen Kostgängers war, und nöthigte seinen Gast nach Beendigung des schweigsamen, nur von den nöthigsten Worten unterbrochenen Mahls, ihm nach dem Parlor zu einem Platze am Kaminfeuer zu folgen.

„Ich will von dem, was geschehen ist, nichts mehr erwähnen, Sir,“ begann Bell hier, sich langsam durch das dichte, grau gemischte Haar fahrend, während Reichardt gespannt des Kommenden harrte. „Hatte ich vielleicht auch nicht mit Bedacht genug gehandelt, so werden Sie doch vielleicht heraus gefühlt haben, daß mich eine Theilnahme für Sie dazu leitete, die sich leicht verstehen läßt, wenn auch Ihnen selbst die Gründe dafür noch nicht ganz klar sein mögen. Sie sind mit Liebe Kaufmann, sonst hätten Sie wohl Mr. Augustus Frost’s Interesse für Sie in anderer, augenblicklich gewinnbringenderer Weise benutzt – Sie haben sich nicht den übrigen jungen Leuten im Geschäfte und deren oft wenig empfehlenswerthen Vergnügungen angeschlossen, und ich habe Sie sogar schon zweimal in unserer Episkopal-Kirche gesehen – Sie haben sich Ihren Arbeiten mit allem Eifer und trotz Ihrer Leistungen mit einer Bescheidenheit unterzogen, die Leuten in meiner Stellung wohlthut – und was ich von Ihrem übrigen Leben weiß, hat mir ebenso gezeigt, daß Sie anders sind, als man es von unseren Clerks gewöhnlichen Schlags gewöhnt ist. Ich habe aber ebenso gut gewußt, Sir, daß man in Ihrem Alter, bei allen guten Anlagen, kein Engel ist, daß man meist erst in reiferen Jahren nach manchem Ringen und Kämpfen zu dem innern Halte gelangt, auf welchen der Mensch allein sich verlassen kann; ich wußte, daß die Verführung an Sie herantreten und vielleicht Alles zu Grunde richten würde, was bis jetzt meine Theilnahme für Sie geweckt, was Ihnen einen Weg für Ihre Zukunft eröffnen konnte, und sah mit Sorge, wie John Ihnen seine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Es ist ein junger Mann mit vielen tüchtigen Eigenschaften; aber in seinen Verhältnissen, die kaum eine Mühe oder einen Kampf von ihm fordern, schießen die Giftpflanzen am üppigsten auf. Well, Sir, Sie sind nicht der ersten Verführung erlegen, wie ich fürchtete, aber nichts kann Ihnen eine Sicherheit für die Zukunft geben – Sie kennen die mannigfachen Verhältnisse nicht, in welche Sie ganz naturgemäß gerathen müssen, sobald Sie mit Ihrer jetzigen Stellung völlig vertraut sein und sich nach Abwechselung und Zerstreuung sehnen werden – und so, wenn Ihnen an einem ruhigen, ungehinderten Vorwärtskommen liegt, hören Sie einen Vorschlag, den ich Ihnen, ohne den gestrigen Vorfall, erst später gemacht haben würde – werden Sie Mitglied unserer Kirche, Sir! Der tüchtige Fond, welchen Sie in sich haben, wird dadurch den Halt bekommen, ohne den wir Menschen nun einmal nichts sind, als schwaches Rohr im Winde. Außerdem aber wird es mir nicht allein möglich werden, Sie mit der Zeit in einen ganzen Kreis respectabler Familien einzuführen und so Ihr Privatleben angenehm zu machen – Sie werden auch Ihrem ganzen geschäftlichen Fortkommen die beste Stütze geben. Einem jungen Manne, der neben geschäftlicher Tüchtigkeit im kirchlichen Kreise gut angeschrieben steht, kann es nie fehlen, und ich würde Ihnen schon heute die naheliegendsten Beweise dafür geben können, wenn Sie eine Weile zu den Unseren gehört hätten –“

Er hob die bis jetzt gesenkt gewesenen Augen und begegnete Reichardt’s ruhigem Blicke, der indessen einen Ausdruck zu enthalten schien, welcher ihn in seiner Rede innehalten ließ. „Sie wollten mir entgegnen, Sir?“ fragte er nach einer Pause zögernd.

„Wenn Sie zu Ende sind, möchte ich mir wohl zwei Worte erlauben,“ erwiderte der Deutsche und um seinen Mund spielte es wie ein Zug gutmüthiger Laune. „Ich danke Ihnen zuerst herzlich für Ihre gute Meinung von mir, obgleich Sie mir damit zu viel Ehre anthun, Sir!“ fuhr er fort. „Daß ich meine Arbeiten gethan und nach besten Kräften weiter thun werde, hat seinen einfachen Grund in meiner Neigung dafür und meinem handgreiflichen Vortheile – alles Uebrige aber haben die Verhältnisse so gefügt. Ich hätte recht gern mit einzelnen der Clerks eine freundliche Verbindung angeknüpft, wenn es sich hätte thun lassen, denn das Alleinstehen war mir nichts weniger als angenehm – im Uebrigen aber hält mich ein angeborener Widerwille von den gewöhnlichen Ausschweifungen junger Leute zurück. In der Kirche bin ich der vorzüglichen Orgel und des recht braven Gesanges halber gewesen – ich bin aber auch ein leidenschaftlicher Freund aller andern guten Musik, Mr. Bell, sei sie nun im Concert oder in der Oper, und wenn ich wohl schon deshalb schlimm zu einem Kirchenmitglied taugte, so muß ich Ihnen leider bekennen, daß mir auch in jeder andern Beziehung der innere Beruf dafür abgeht. – Ich erkenne alle die Vortheile, Sir, welche sich mir bieten könnten,“ fuhr er lebhafter fort, als der Cassirer eine leichte Bewegung, wie um ihn

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