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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

sich hinstarrte, sich Margaret’s Bild in allen Einzelnheiten, wie er sie in Saratoga gesehen, vor die Seele stellte, und sich in diese lachenden, dunkelblauen Augen versenkte, da rieb er sich unzufrieden die Stirn. „Auf diese Weise hätte das Glück lieber wegbleiben sollen!“ brummte er, „aber hoffentlich werden Wille und Verstand auch noch ein Wort zu sagen haben! “ und wie befriedigt von dem Gedanken überließ er sich wieder der frühern innern Behaglichkeit.

Er hatte so eben eine für den heutigen Tag bestimmte Rechnungs-Aufstellung begonnen, als der Cassirer eintrat und bei Reichardt’s Anblick wie verwundert den Kopf hob. „Schon hier, Sir?“ fragte er, mit einem eigenthümlichen Seitenblick an sein Pult tretend.

Der Angeredete sah auf – es war das erste Mal, daß der alte Bell ein außergeschäftliches Gespräch mit ihm begonnen. „Ich denke, es ist nicht mehr früh, Sir,“ erwiderte er, „wenigstens habe ich schon ein Stück Arbeit unter den Händen weg!“

„Haben Sie?“ fragte der Alte mit einer sonderbaren Trockenheit, „in der Regel arbeitet es sich nicht gut, wenn man schlecht geschlafen hat!“

Reichardt blickte von Neuem auf. „Ich weiß nicht, Sir, ob Sie meinen Schlaf Ihrer Berücksichtigung würdigen,“ erwiderte er, als wisse er nicht recht, was aus den Worten des Cassirers zu machen, „ich darf Ihnen aber in diesem Falle sagen, daß er nie besser war, als in letzter Nacht!“

„Ah!“ zog der Alte, den Kopf langsam in den Nacken legend, „und so sind Sie auch jedenfalls recht sanft und weich gebettet gewesen? “

Durch Reichardt’s Gehirn schoß plötzlich ein Gedanke, welcher Licht in die sonderbaren Fragen des Alten brachte, zugleich aber ein helles Lächeln in dem Gesichte des Deutschen hervorrief. „Sie sind mit Ihren Vermuthungen wohl nicht ganz auf der rechten Fährte, Mr. Bell,“ sagte er, „es scheint mir fast, als wollten Sie auf einen Vorgang, welcher letzte Nacht im Astorhause stattfand, hindeuten –“

„Well, Sir, und wenn dem so wäre?“ erwiderte der Cassirer, während sein Auge, wie im Unmuth über den leichten Ton des jungen Mannes, einen strengen Ausdruck annahm.

„So habe ich eben nichts damit zu thun gehabt!“ versetzte Reichardt, ohne sein Lächeln unterdrücken zu können. „So viel ich weiß, hat der Ueberfall gegen ein Uhr stattgefunden; um elf Uhr aber hatte ich mit Mr. Frost das Haus bereits verlassen und lag kurz darauf schon weich und warm in meinem Bette –“

Der Cassirer schwieg einige Secunden, hielt aber das graue durchdringende Auge so fest auf Reichardt’s Gesicht geheftet, als wolle er in dessen Seele lesen. „Und dennoch scheinen Sie so genau zu wissen, was vorgegangen?“ versetzte er endlich.

Reichardt’s Lächeln verschwand und ein rasches Wort schien auf seine Lippen zu treten, das er aber, wie sich besinnend, zurück drängte. „Sie meinen sicher nicht damit, Mr. Bell, daß Sie einen Zweifel in meine Wahrheitsliebe setzen könnten?“ sagte er, fast wie bittend, und die Augen des Alten suchten vor seinem Blicke eine Secunde lang den Boden; „ich habe das erste Wort über die Angelegenheit erst heute Morgen erfahren.“

„Und Sie sagen, auch Mr. John Frost habe den Platz so früh verlassen?“ begann der Cassirer wieder, das Auge wie in unruhiger Spannung hebend.

„Wir haben miteinander die Straße betreten, Sir!“

Bell warf durch den halbgeöffneten Eingang einen Blick in das vordere Zimmer und schloß dann die Thür. „Haben Sie wohl irgend ein Bedenken, mir zu sagen, Sir, was den jungen Frost gerade gestern vermocht, seiner ganzen Gewohnheit zuwider so früh dort aufzubrechen?“ fragte er, sich langsam seinem Pulte wieder zuwendend; „es ist ein reiner Privatgrund, welcher mich zu der Frage veranlaßt.“

„Well, Mr. Bell, Sie bildeten selbst die Grundursache,“ erwiderte Reichardt und konnte sich eines neuen Lächelns nicht erwehren, als das Gesicht des Andern sich mit einem plötzlichen Ausdrucke von fragender Verwunderung nach ihm hob; „Sie sprachen gestern Abend zu mir über das Spiel im Astorhause; aber mehr noch als Ihre Worte blieben Ihre Blicke in meiner Erinnerung, mit denen Sie von jeder Hundertdollarsnote Abschied zu nehmen schienen; ich sah, daß John Unglück hatte, daß er in seiner Erregung vielleicht weiter gehen würde, als er es wohl mit kaltem Blute thäte, und überredete ihn, mit mir das Local zu verlassen –“

Der Cassirer nickte langsam, den ersten Blick forschend in des jungen Mannes Gesicht gerichtet, als wisse er noch immer nicht, wie weit er trauen dürfe.

„Und ich glaube, Sir,“ fuhr Reichardt fort, „daß nach Allem, was ich erfahren, der Vorfall in der letzten Nacht den besten Eindruck für alle Zukunft auf ihn hervorgebracht hat.“

„Vielleicht, Sir, vielleicht!“ erwiderte der Alte, nach einem langen Blicke in das offene, ehrliche Auge des Deutschen, „vielleicht hätte aber eine schärfere Lection noch besser ihre Wirkung gethan.“

Ein sonderbarer Gedanke schoß plötzlich durch Reichardt’s Kopf. „Das heißt, Sir,“ fragte er lachend, „es wäre besser gewesen, wenn John und ich diese Nacht auf der Polizei-Pritsche hätten zubringen müssen?“

„Von Ihnen sprach ich nicht, Sir – und die Sache hat sicher auch ihr Gutes, gerade so, wie sie geschehen ist – indessen läßt sich hier nur wenig darüber reden,“ erwiderte der Cassirer und hob das Ohr horchend; „nehmen Sie Ihr Mittagsbrod heute mit mir, Sir, und wir werden eine Stunde zu ungestörtem Austausch unserer Gedanken finden, die uns vielleicht Beiden gut thun wird.“

„Ich habe keinen Grund, Ihre freundliche Einladung auszuschlagen, Sir,“ sagte Reichardt etwas überrascht, wandte sich aber nach seiner Arbeit, als jetzt die Thür aufsprang und Augustus Frost langsam durch das Zimmer schritt, während John ihm rasch folgte und gleichzeitig mit ihm in das hintere Zimmer eintrat.

Der Cassirer, über seine Papiere gebeugt, schüttelte den Kopf. „Jetzt beichtet er ihm die ganze Geschichte und malt sie so komisch aus, bis der Alte nicht mehr ernst bleiben kann und ihn mit einem leichten Verweise entläßt,“ brummte er; „dann geht es auf dem alten Wege weiter, bis die Rücksicht vor dem Vater einmal nicht mehr besteht und das Geschäft sich jeden Abend am Rande des heimlichen Verderbens befindet. Es bedürfte einer scharfen Lection oder eines gewaltigen Einflusses, sollte ihn sein Weg einmal zum Bessern führen; aber aus alle diesen fashionablen Spielern ist noch selten mehr geworden, als fashionable Davonläufer und fashionable Selbstmörder.“ Er nickte brummend mit dem Kopfe und schien sich dann ganz in die Zahlreihen vor sich versenkt zu haben.

Reichardt saß noch eine geraume Weile, ehe er die Gedanken ganz seiner Arbeit wieder zuwenden konnte; es war ihm, als habe er durch Bell’s wenige Worte einen tieferen Blick in die Verhältnisse des Frost’schen Hauses gethan, als ihm dies auf anderem Wege möglich geworden; kaum vermochte er sich ein ansprechenderes Verhältniß zwischen Vater und Sohn zu denken, als der Cassirer es mit einem Zuge hingestellt hatte, und dessen weiter ausgesprochene Befürchtungen erschienen ihm, wie er John kannte, fast nur als die Ergebnisse eines halb verschrumpften griesgrämigen Herzens; hätte er es doch jetzt allein unternehmen mögen, den jungen Mann ganz vom Spieltisch wegzuhalten. Damit aber kam die Erinnerung an Bell’s Einladung, die er sich ohne eine bestimmle Absicht des Letzteren nicht denken konnte, bis er sich endlich aller fremden Gedanken mit Macht entschlug und seine Aufmerksamkeit den vor ihm liegenden Büchern zuwandte. Der Cassirer aber schien während seiner Arbeiten die Thür zu des Chefs Zimmer nicht aus dem Auge zu lassen; es war fast schon eine Stunde verflossen, seit Vater und Sohn bei einander waren, und mit jeder neuen Viertelstunde schien sich eine größere Befriedigung auf Bell’s Gesichte zu lagern.

„Hoffentlich schlägt einmal die Vernunft durch!“ sagte er soeben, als sich die Thür öffnete und John in seiner gewöhnlichen leichten Haltung aus seines Vaters Zimmer trat.

„Mr. Bell,“ sagte er mit einem eigenthümlichen Lächeln, „hier ist Mr. Reichardt, der mich gestern Abend vor einer ganz unangenehmen Klemme bewahrt hat, einer Klemme, die für ihn selbst die unangenehmsten Folgen hätte haben können, so unschuldig er auch dabei war. Ich habe gar nichts dawider, Sir, daß Sie auf mich keine Rücksicht nehmen, daß Ihnen selbst mein Name so wenig gilt, daß Sie ihn in die Berichte des Polizeigerichts aufgenommen zu sehen wünschen; aber Sie hätten Schonung gegen einen jungen Mann üben sollen, von dem Sie wußten, daß er nur in meinem Auftrage handelte, und dessen Zukunft Sie mit dem einzigen Streiche, welchen Sie ausführten, vernichten mußten. – Well,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_450.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)