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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

heutigen Tage geblieben ist? Mit dem Takte des Genies erkannte Goethe in jenem alten einfachen Stoffe die poetischen Motive, und indem er dieselben dichterisch gestaltete und verarbeitete, neue poetische Momente hinzutrug, das Ganze mit den edelsten und doch naturwahrsten Gestalten aus dem schlichten, tüchtigen deutschen Bürgerleben belebte, und statt der Salzburger Emigrationsgeschichte die großartigen, welterschütternden Begebenheiten der französischen Revolution mit ihrem ethischen Aufschwung, aber auch ihrem furchtbaren Elend zum Hintergrund wählte, schuf er ein episches Gedicht, das ein Wilhelm von Humboldt für das die Schönheit der antiken Dichtungen mit den Vorzügen der modernen Poesie verbindende Dichtwerk, das ein Schiller für den Gipfel der neuern Dichtung, das der Engländer Lewes für das vollendetste unter allen Goetheschen Producten erklärt und hinsichtlich der Charakterzeichnung sogar den Shakespeare’schen Dramen zur Seite gestellt hat – sein unsterbliches Gedicht Hermann und Dorothea.

Die Emigranten, zusammen über 22,000 an Zahl, gingen theils nach Hannover oder Holland, theils nach Nord-Amerika, die meisten aber nach Preußen. Friedrich Wilhelm I. nahm über 20,000 in sein Land zuvorkommend auf, er that es als Schirmherr des Protestantismus, er wußte aber auch, was er an ihnen gewann, und es lag ihm daran, die durch den nordischen Krieg und durch Pest verödeten Gegenden Ostpreußens wieder zu bevölkern. Einige Zeit über ließ er jedem Mann vier, jeder Frau und jedem Mädchen drei, jedem Kinde zwei Groschen als Beitrag zu den Auswanderungs- und Reisekosten zahlen, indem er bemerkte: „Ich gebe es gern, Gott hat es mir ja gegeben, daß ich den armen Leuten Gutes thun soll.“ Er wies ihnen in Preußisch-Litthauen einen Landstrich an, wo sie beisammen leben sollten, und erleichterte ihnen die Ansiedelung. Noch unter dem 1. Septbr. 1732 schrieb er an den Grafen von Seckendorf: „Wenn noch 30,000 Salzburger kommen, ich Platz habe; und die Depense, unter uns gesagt, ist nit groß, und peuplire mein wüst Land.“ Die „Depense“ ihrer Aufnahme betrug mehr als zehn Tonnen Goldes, was war dies aber im Vergleich zu den glücklichen Folgen? Hatten sie noch Anfangs mit Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen, hatten sie auch zu klagen, wie sich die Soldaten unterständen, die längsten Kerle unter ihnen zu werben und mit Gewalt zu Soldaten zu machen (die Potsdamer Leibgarde bedurfte ja Rekruten!), so lebten sie sich doch bald in die neue Heimath ein und brachten dem Lande als braves, biederes Volk durch ihren Fleiß reichen Segen. Hundert Jahre später, 1832, feierten ihre Nachkommen ein Fest dankbarer Erinnerung und setzten zu Gumbinnen dem König Friedrich Wilhelm I. ein Denkmal. Und in Salzburg? Was Schiller seinen Posa zu König Philipp sagen läßt:

      Schon flohen Tausende
Aus Ihren Ländern froh und arm. Der Bürger,
Den Sie verloren für den Glauben, war
Ihr edelster. Mit offnen Mutterarmen
Empfängt die Fliehenden Elisabeth,
Und furchtbar blüht durch Künste unsers Landes
Britannien. Verlassen von dem Fleiß
Der neuen Christen liegt Granada öde,
Und jauchzend sieht Europa seinen Feind
An selbstgeschlagnen Wunden sich verbluten –

man hätte es analog auch dem Erzbischof Eleutherius zurufen können. Nach glaubwürdigen Nachrichten sank die Einwohnerzahl, welche in ältern Zeiten sich wohl aus 250,000 belaufen, seit der Auswanderung der Protestanten auf 190,000 herab. Ein Reisender, der damals das Land besuchte, berichtete, es sähe dort aus, als wenn die Pest zwei Jahre daselbst gewüthet hätte.

Zu manchen Gegenden stand Dorf an Dorf leer und öde, kein Hirt trieb eine harmonisch läutende Heerde auf die Alm, kein Gesang fröhlicher, rüstiger Schnitter schallte von den Feldern, Alles leer, Alles wüst, Alles traurig. Der Wille des Erzbischofs, wie er ihn einst in roher Heftigkeit ausgesprochen hatte, war erfüllt; ja, er hatte nun keinen Ketzer in Salzburg mehr und empfing mit kindischer Eitelkeit zum Dank für die verdienstvolle That vom Papste den Titel „Hoheit“, aber das Land hatte seine besten, treuesten, fleißigsten Bewohner verloren, und auf den Aeckern wuchsen Dornen und Disteln!

Man schrieb damals 1731. Wohl haben wir seitdem keinen Act von solchem Fanatismus, von solcher Brutalität in Deutschland wieder erlebt; ja es hat sich in diesen Tagen die österreichische Regierung endlich genöthigt gesehen, für die Protestanten der deutsch-slavischen Kronländer einschließlich Tyrol die frühern Beschränkungen in Rücksicht auf Errichtung von Kirchen mit Thürmen, Glocken, Begehung von religiösen Feierlichkeiten, des Bezugs von Büchern und Schriften aufzuheben, ihnen die selbstständige Ordnung, Verwaltung und Leitung der kirchlichen Angelegenheiten zu gewähren und ihnen die vollste Freiheit des Glaubensbekenntnisses und den Vollgenuß der bürgerlichen Rechte zuzusichern. Aber man werfe einen Blick auf die jetzigen Zustände der Juden in dem größten Theile Deutschlands, auf die Herrschaft einer „Staats-Religion“, auf die heillosen, nur Unfrieden säenden, die Gemüther knechtenden, freiheitsfeindlichen Concordate, auf die Verhältnisse der Deutschkatholiken und der freien Gemeinden, auf die Bevormundung der protestantischen wie der katholischen Kirchen-Gemeinden und selbst der Volksschule durch den Klerus, auf das Verkennen der von dem großen Criminalisten Feuerbach so treffend ausgesprochenen welthistorischen Wahrheit: „Die Wissenschaften gleichen den Seeen. Wenn sie stagnirend stille stehen und nicht ewige Fluth sie bewegt, dann verpesten sie die Luft und werden zum Aufenthalt des Ungeziefers, das im Moraste sich gefällt,“ auf die ebenso anmaßliche, als unverständige Forderung einer Umkehr der Wissenschaft, auf die neuesten Versuche, sogar die Philosophie unter die Controle kirchlicher Oberconsistorien zu stellen, auf den intoleranten Eifer lichtfeindlicher katholischer Kleriker und jener bekannten heuchlerischen, katholisirend-protestantischen Partei, und man wird zugeben müssen, daß wir bis zu einer wahren durchgreifenden Volksaufklärung in religiösen Dingen, bis zum wahren Verständniß, zur wahren Verwirklichung des Grundgedankens der erhabenen Religion der Liebe, bis zur vollkommenen Glaubensfreiheit und vollständigen Gleichstellung der Confessionen auch jetzt, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, noch einen weiten Weg zurückzulegen haben und bis dahin leider noch „gar Vieles faul ist im Staate Dänemark“.

Rob. Keil.

Aus dem Leben Ludwig Devrient’s
(Schluß.)

„Credit?“ sagte Devrient nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit zu dem Schauspieler. „Ich werde Ihnen beweisen, wie sehr Sie sich geirrt haben, Louis!“ rief er. „Kannst und willst Du mir 30 Thaler leihen?“

„Thut mir leid, Herr Devrient,“ lautete die höfliche Antwort; „ich bin nicht im Besitze einer solchen Summe.“

„Gut, so geh’ und bitte Deinen Herrn darum. Ich brauch’s nicht meinetwegen, sondern um ein gutes Werk zu thun.“

Der Kellner ging und brachte nach kurzer Zeit eine abschlägige Antwort.

„Da haben Sie’s!“ lachte Devrient. „Jetzt werden Sie überzeugt sein, daß es an meinem guten Willen nicht liegt, wenn ich Ihnen nicht helfen kann.“

„Das ist hart,“ sagte der Fremde; „ich habe Brod und gute Versorgung für mich und meine Familie in der Tasche, und kann nicht fort von hier! Die unglückliche Anna,“ fuhr er halb im Selbstgespräche, halb laut fort, „es wird ihr Tod sein!“

Der Name Anna hatte auf Devrient wie mit elektrischer Kraft gewirkt; er fragte: „Heißt Ihre Frau Anna?“

„Ja! Anna R., geborne H.,“ lautete die Antwort. „Kennen Sie dieselbe vielleicht?“

Devrient biß sich aus die Lippe, aber antwortete nicht. Anna H. war seine erste und einzige Liebe gewesen.

Indessen hatte der Kellner das befohlene Essen servirt. Während sich R. mit wahrem Heißhunger darüber hermachte, das saftige Beefsteak zu verzehren, ließ Devrient, das Haupt auf die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_443.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)