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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

früheren Stellung verharrt war, und verließ das Zimmer. Er hatte kaum den ersten Fuß auf die Treppe nach dem untern Raum gesetzt, als er zwei Arme seinen Hals umschlingen fühlte, „’s ist weiß Gott so, immer nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt!“ hörte er des Kupferschmieds mühsam unterdrückte Stimme. „Sie werden noch ein großer Kerl, ich sag’s Ihnen, Reichardt, und ich muß jetzt eine Stunde mit Ihnen gehen, sollten sie mich auch Ihnen nach zum Teufel jagen!“


Vierzehn Tage waren vergangen, seit Reichardt das Ziel seiner nächsten Wünsche erreicht hatte; er war Clerk in einem großen Handlungshause und seine Zukunft lag sorgenfrei vor ihm; demohngeachtet hatte Alles, was er sich bei seinem ersten Eintritte in das Geschäft geträumt, ein gänzlich verändertes Ansehen gewonnen. Er war den Clerks in der vorderen Office, denen der junge Frost an seinem durch ein besonderes Gitter abgetrennten Pulte präsidirte, als neuer College vorgestellt worden, damit aber war auch seine Einführung völlig geschehen, und Niemand kümmerte sich weiter um ihn. Sein Arbeitsplatz befand sich in dem zweiten Raume neben dem Cassirer, und die gewöhnlichen Begrüßungen schienen die einzige Verbindung zwischen den Inhabern der beiden Zimmer zu bilden. Reichardt hatte anfänglich auf wenig mehr, als auf seine Arbeit geachtet; in der ersten Woche, die, nach der Art der ihm zugetheilten Arbeit, ihm wie eine gewährte Frist für seine Information erschienen war, hatte er sich mit allen Kräften in das noch fremde Feld geworfen, hatte hier indessen schneller, als er gehofft, die alten bekannten Wege, wenn auch theilweis unter veränderter Form, wiedergefunden und mit voller Lust sich einer Vervollständigung der ihm nothwendigen Kenntnisse hingegeben.

Doch mit dem Tage seines Eintritts waren auch die Persönlichkeiten des alten, wie des jungen Frost gänzlich andere geworden, als sie ihm zuerst erschienen. Kalt, einen Tag wie den andern, ging der alte Chef durch das Cassenzimmer, nur hie und da ein paar kurze Fragen an den Cassirer richtend, die eben so kurz von diesem beantwortet wurden, und nur ein einziges Mal, beim Anfange der zweiten Woche, war er an Reichardt’s Platze stehen geblieben und hatte mit einem Anfluge des früheren Wohlwollens gesagt, daß die Leistungen des jungen Mannes genügen würden, sobald er in seinem Eifer zu lernen wie bisher fortfahren werde. Der junge Frost aber schien nur durch ein zeitweiliges Kopfnicken, wenn er durch das Cassenzimmer ging, die mit Reichardt geschlossene Freundschaft anerkennen zu wollen; er kam später und ging früher als die Uebrigen, und so war der Deutsche nie wieder zum Austausch eines Wortes mit ihm gekommen. Nur einmal war Jener am Arme eines andern jungen Elegants ihm auf der Straße begegnet, hatte leicht seine Hand ergriffen und im Vorübergehen geäußert: „Halloh, Reichardt, wir sehen uns jetzt kaum mehr, warum kommen Sie nicht einmal nach unserm Hause?“ und manchen Tag danach hatten diese Worte noch in den Ohren des neuen Clerks geklungen, ohne daß er ihnen dennoch mehr Bedeutung beilegen mochte, als der einer absichtslos hingeworfenen Aeußerung. Er kannte ja wohl den amerikanischen Gebrauch, formlose kurze Besuche in dem „Parlor“ einer Familie abzustatten; dazu aber gehörte wenigstens, als Bekannter des Hauses angesehen zu werden, und welchen Grund hatte er, der jüngste Clerk im Geschäft, darauf Anspruch zu machen?

In irgend einer andern Stellung, die er durch Frost’s Vermittelung erlangt hätte, wäre ein freies Herantreten an die Familie in der Ordnung gewesen, und fast glaubte er jetzt den Sinn der Worte, mit welchen der alte Frost ihn zum Clerk angenommen: „Es thut mir leid, nicht mehr für Sie thun zu können!“ zu verstehen. Seine ganze Stellung hatte sich anders gestaltet, als sie ihm vorgeschwebt; hier in Amerika existirte nicht die Art von Familienband, welche in Deutschland meist die Mitglieder eines Geschäfts an den Prinzipal und seine Interessen knüpfen, hier war das einfache Contractverhältniß zwischen Arbeitendem und Zahlendem – Reichardt fühlte sich völlig allein, und oft, wenn er nach Dunkelwerden einen einsamen Spaziergang durch die Straßen machte, konnte ihn trotz des wohlthuenden Gefühls, eine sichere Stellung erlangt zu haben, eine wehmüthige Empfindung überschleichen, wenn aus einem öffentlichen Locale die Töne eines Pianos und einer Geige heraufklangen; er mußte sich bisweilen zwingen, an irgend einem obscuren Bierkeller vorüberzugehen und nicht hinabzusteigen, um Bekanntschaft mit einem gewesenen Collegen zu machen, dessen Spiel ein besseres Auditorium verdient gehabt.

Manchen Abend war Reichardt, nur um ein Ziel für seinen Gang zu haben, nach dem Boardinghause gewandert, in welchem er den Kupferschmied wußte. Genügte ihm dieser auch nicht, weder seiner Erziehung noch seiner ganzen Lebensanschauung nach, so war es doch eine so treue Seele, wie sie Reichardt in seinem jetzigen Alleinstehen nur bedurfte, und es that ihm zugleich wohl, die Genugthuung zu bemerken, mit welcher Jener ihn empfing, einen Stuhl für ihn abstäubte und sich dann entfernte, um zu dem gemeinschaftlichen Ausgange den Sonntagsrock anzuziehen. Saßen sie dann in irgend einem Locale besserer Art bei einander, so schien es Meißner für seine Pflicht zu halten, die Unterhaltung zu führen, und hatte aus seinem frühern Leben so viele der eigenthümlichsten Schnurren und Erinnerungen vorräthig, daß Jener kaum mehr zu thun brauchte, als sich den Eindrücken, welche dieses kräftige, praktische Gemüth auf ihn übte, hinzugeben.

Es war ein dunkler, stiller Abend. Von dem bedeckten Himmel fielen langsam große Schneeflocken nieder, als Reichardt von einem Gange nach der Wohnung des Kupferschmieds, den er nicht angetroffen, zurückkehrte. Er war Broadway hinabgegangen und überlegte eben, auf welche Weise er den Abend verbringen solle, als er plötzlich seinen Namen nennen hörte. Von den Stufen des Astorhauses kam ihm ein junger Mann entgegen. „Ausgezeichnet, daß ich Sie treffe, Sir; Sie müssen mir einen ganz speciellen Gefallen thun,“ hörte er die Stimme des jungen Frost, „ich kann nicht gut von der Gesellschaft weg, sonst würde ich Sie nicht plagen – kommen Sie herein, Sir!“

Reichardt folgte nach der Office des Hotels, wo der Vorausgeschrittene einige Worte auf ein Stück Papier warf und dann den jungen Deutschen bei Seite zog. „Sie wissen, wo Mr. Bell, unser Cassirer, wohnt?“ fragte er. Reichardt bejahte etwas verwundert. „Er geht Abends nie aus,“ fuhr der Erstere fort. „bringen Sie ihm diesen Zettel und bitten Sie ihn, mir sogleich durch Sie den vermerkten Betrag zugehen zu lassen und die besondere Mühe, die ihm der Gang nach unserer Office verursachen mag, zu entschuldigen. Dann kommen Sie mit dem Gelde hierher, nach dem kleinen Zimmer, in welchem wir schon einmal bei einander waren, und ich werde dadurch Gelegenheit erhalten, Sie endlich in die Gesellschaft unserer jungen Leute einzuführen.“ Mit einem vertraulichen Kopfnicken eilte er davon, und Reichardt ging, um den ihm gewordenen Auftrag auszuführen, wenn ihm auch die 500 Dollars, welche ihm bei einem Blicke auf das Papier entgegensahen, ein innerliches Kopfschütteln abnöthigten. Es war zum Zwecke eines abendlichen Vergnügens jedenfalls eine ziemlich starke Summe, selbst für einen reichen jungen Mann.

Nach Kurzem hatte er das Haus, in welchem der Cassirer seine Wohnung und Kost hatte, erreicht – es war eines der kleinen Privathäuser, wie sie sich noch aus ältern Zeiten in dem untern Theile der Stadt fanden, jetzt aber fast sämmtlich von den Geschäftslocalen verdrängt worden sind und nach Nennung seines Namens öffnete sich vor Reichardt rasch der Parlor, in welchem sich der Gesuchte steif von einem Stuhle neben dem Kaminfeuer erhob. An der andern Seite des Kamins aber saß eine ältliche, hagere Lady in Schwarz, und schien in ihrer ganzen Haltung nur ein Seitenstück zu dem Cassirer abgeben zu wollen. „Mrs. Reynolds, meine Wirthin!“ stellte dieser förmlich vor und griff sodann nach dem Zettel in Reichardt’s Hand. Dieser wiederholte die Entschuldigungsworte des jungen Frost, Jener aber schien die wenigen Zeilen zu drei, vier Malen bedächtig zu überlesen, bis er endlich die grauen Augen langsam hob und sie mit einem Ausdrucke von Mißfallen auf den jungen Deutschen heftete. „Sie kommen vom Astorhause, Sir?“ fragte er.

„So ist es, Mr. Bell!“ erwiderte der Befragte einfach, „ich passirte zufällig, als mich Mr. John Frost mit dem Auftrage betraute.“

„Zufällig! “ wiederholte der Andere, mit einem eigenthümlichen Lächeln die Augen wieder auf das Papier sinken lassend; „ich werde indessen sogleich bei Ihnen sein!“

Er verließ das Zimmer, und die Lady am Kamin sah wortlos mit sorgenvoll gerunzelter Stirn in’s Feuer, als sollten ihre Züge das ausdrücken, was der alte Gentleman sichtlich unausgesprochen gelassen – nach wenigen Minuten indessen erschien dieser, durch einen warmen Ueberwurf geschützt, wieder, und Reichardt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_434.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)