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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ausdruck einer Todten. Aber auf einmal war das Leben in sie zurückgekehrt; mit dem Leben ein großer, fester Entschluß.

„Mein Herr,“ sagte sie zu mir, „ich habe jetzt eine Bitte an Sie. Er hat sein Todesurtheil empfangen, Sie sehen es an dem Schrecken jener Elenden, die vorhin über Muth, über Seelenadel lachen konnten. Ich hatte mich vorher nach Allem erkundigt. Das Urtheil wird schon morgen in der frühsten Frühe vollzogen werden. Nur die wenigen Stunden dieser Nacht gehören ihm. Ich muß ihn sehen, noch einmal, jetzt gleich. Führen Sie mich zu ihm.“

Sie hatte so fest, so ruhig gesprochen; sie war des Mannes würdig, der Mann ihrer.

„Gnädige Frau, um des Himmels willen!“ rief der alte Diener entsetzt. „Gehen Sie nicht, es ist Ihr Tod; Sie machen ihm die letzten Lebensstunden schwerer.“

Sie blieb ruhig.

„Nein, guter Konrad. Wie wenig kennst Du ihn und mich! Es wird uns Beide aufrichten, ihn für seine letzte Stunde, mich für das ganze Leben. Aber der Tod wird auch mir nahe sein, wenn ich ihm zum letzten Male die Hand gedrückt habe, zum Tode. Meine Füße werden mich nicht tragen können, besorge mir einen Wagen, der mich dann zum Gasthofe zurückbringt. Mein Herr, geben Sie mir Ihren Arm.“

Sie war eine wahrhaft große Frau. Der Diener beugte sich schweigend ihrem Willen. Ich bot ihr meinen Arm, sie legte den ihrigen hinein, fest, ohne Zittern. So führte ich sie aus dem Hause. Wie anders hatte ich sie vor wenigen Stunden hineingeführt! Was Alles hatte in der kurzen Zeit sich ereignet! Ich selbst, das fühlte ich, war für mein Lebenlang ein anderer Mensch geworden.

Ich führte sie an dem wüsten, rohen Tanze vorbei durch die dunkle, stille Gasse zu dem Zuchthause. Auch hier war es still, die Zuschauer hatten den Gerichtssaal noch nicht verlassen. Wir durchschritten ohne Hinderniß das Gitterthor. Die Soldaten waren überall geordnet aufgestellt. Ich hatte vorher an eine Rettung denken wollen.

„Gnädige Frau, haben Sie für den Fall der Verurtheilung an eine Flucht gedacht?“

Wir standen vor dem Gitterthor. Sie zeigte durch die Gitter. „Sehen Sie die strenge Bewachung dort, und er bleibt die Nacht hier. Von hier aus wird er morgen früh –“

Sie konnte doch nicht vollenden. Wir erreichten das Portal des Zuchthausgebäudes. Mehrere Officiere begegneten uns, an ihrer Spitze der Stabsofficier, der dem Standgericht präsidirt, dem Verurtheilten das Todesurtheil verkündet hatte. Er sah bekümmert aus, sein schweres Amt war ihm schwer geworden. Meine Begleiterin wandte sich an ihn.

„Mein Herr, kann ich meinen Mann sehen?“

Sie brauchte ihm nicht zu sagen, wer sie sei. Der Officier erschrak. Er hätte wohl lieber im Kugelregen der Schlacht gestanden.

„Gnädige Frau, ich bedauere. Ihr Gatte steht nicht mehr unter meinem Befehle; seit der Verkündigung des traurigen Spruchs haben meine Functionen hier aufgehört, Sie müssen sich an den Stadtcommandanten wenden.“

„Und wo finde ich den Commandanten?“

„Er ist im Commandanturgebäude.“

Das Gebäude lag in einem anderen Theile der Stadt. Mitternacht war vorüber. Einer der jüngeren Officiere erbot sich dennoch, die unglückliche Frau zu dem Commandanten zu führen oder für sie hinzueilen. In dem Augenblicke öffnete sich eine Seitenthür.

Der Verurtheilte trat heraus, von einer Militairwache geleitet. Er sollte in seine Zuchthauszelle zurückgeführt werden. Die Gattin sah ihn.

„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sagte sie zu dem jungen Officier.

Dann flog sie auf ihren Mann zu.

„Adolph, mein Adolph!“

Sie lag in seinen Armen. Die Wache war unwillkürlich zurückgetreten. Es giebt ein großes, edles Unglück, das die Brust eines jeden Menschen mit Ehrfurcht erfüllt. Die Officiere entfernten sich schweigend. Auch sie waren von jener Ehrfurcht ergriffen. Die Gatten hielten sich umfangen. In der ersten Secunde hatte das völlig Unerwartete den Verurtheilten wohl niederschmettern wollen. Dann war er klar gefaßt.

„Ich hatte nur an Dich gedacht, Alexandra.“

„Ich weiß es.“

„An Deinen Schmerz –“

„Du sollst mich aber auch Deiner würdig finden, Adolph. Darum siehst Du mich hier. O, ich weiß es. Du bist ein echter deutscher Mann. Du weißt für Dein Vaterland zu sterben. Das mußte ich Dir sagen. Meine Bewunderung mußte ich Dir bringen, den Dank des Vaterlandes.“ –

Sie wollte noch weiter sprechen. Eine Thür in der Nähe hatte sich geöffnet. Ein paar elegante Damen waren herausgetreten. Sie mußten in der vornehmen Aristokratie die Vornehmsten sein. Das übrige Publicum war auf einer anderen Seite aus dem Gerichtssaale hinausgelassen. Sie hatten durch diese Thür treten dürfen. Sie blieben stehen, als sie das edle, dem Unglücke, dem tiefsten Schmerze geweihte Paar erblickten. Sie zogen ihre Lorgnetten hervor.

„Ah, eine Scene!“

Sie traten nicht zurück. Die unglückliche Frau sah sie. Sie konnte ihre Fassung behalten.

„Wir müssen uns trennen, Adolph. Gieb mir den Kuß der Scheidung und für unsere Kinder deinen letzten Segen.“

Auch der Verurtheilte blieb gefaßt.

„Bringe den Kindern meinen Segen. Emma wird werden wie Du, und die beiden Knaben – lehre sie, nie ihres Vaters vergessen; sie werden dann auch dem Vaterlande nicht untreu werden. Und nun lebe wohl, Alexandra, mein theures, mein edles Weib.“

Sie umarmten sich still. Dann wandte er sich an die Soldaten zurück, die ihn geleiteten.

„Führt mich!“

Er stieg festen Schrittes mit ihnen eine Treppe hinauf. Ich war zu ihr hingetreten. Sie nahm meinen Arm. Sie zitterte heftig, aber sie konnte voranschreiten. Ich führte sie aus dem Hause. Nach den beiden vornehmen Damen hatte ich mich nicht wieder umgesehen. Wer kann in solchen Momenten sich nach der Gemeinheit umsehen? Draußen auf der Promenade wartete der alte Diener mit einem Wagen. Sie stieg hinein. Er mußte sich zu ihr setzen. Zu mir sagte sie noch: „Erfüllen Sie mir noch eine Bitte. Sehen Sie meinen Mann sterben und bringen Sie mir die Botschaft. Sein Vertheidiger kann es nicht, er ist zu sehr angegriffen. Auch nicht mein alter Konrad. Einen anderen Freund habe ich hier nicht.“

Dann brach sie zusammen. Ich sah noch, wie sie, vielleicht in einer wohlthätigen Ohnmacht, in die Arme des alten, treuen Dieners sank. Der Wagen fuhr davon. Ich erfüllte ihre Bitte.

Es war eine warme Augustnacht. Schlaf konnte nicht mehr in meine Augen kommen. Ich verließ die Stadt; ich suchte die grüne Wiese auf, in deren Winkel das Todesurtheil vollstreckt werden sollte. Ein kleiner Kirchhof mit niedriger Mauer lag daneben. Ein klarer, schöner, großer deutscher Strom stoß vorbei. Ich sah die Vorbereitungen zu der Execution.

Bald nach vier Uhr – der Tag begann zu grauen – nahte sich der traurige militairische Zug. Zehn Minuten später fielen an der Mauer des Kirchhofes sieben Schüsse. Sieben Kugeln hatten das Herz einen deutschen Mannes durchbohrt. Welcher Schmerz hatte es schon vorher zerrissen! Er starb muthig und edel, wie er gelebt hatte.

Als er sterbend hinsank, tauchten fern am östlichen Horizont die ersten Strahlen der Sonne auf. Er hatte sie nicht mehr gesehen. Er hat die Sonne der deutschen Freiheit und Einheit nicht mehr gesehen. Sie wird dennoch aufgehen. – Seiner Frau brachte ich die Botschaft.

„Sie haben einen deutschen Mann sterben sehen,“ sagte sie nur und langsam rollte der Wagen mit der Unglücklicken davon, der Heimath, den verwaisten Kindern zu.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_414.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2019)