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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Deutsche Herzen, deutscher Pöbel.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

In dem Augenblicke, wo der Präsident das Urtheil verkünden wollte, wurde die Stille in unserer Nähe unterbrochen. Ein Haufen lärmender Menschen stürzte die Treppe herauf. Männer schrieen, Weiber kreischten; heisere, verstimmte Tanzmusik führte sie. Es war die zurückkehrende Tanzgesellschaft oder ein Theil derselben. Sie hatten sich wohl in der Nachbarschaft, in einem anderen Hause noch mehr berauscht und kamen wilder, lärmender zurück, um von Neuem ihren Tanz zu beginnen. Sie stürmten in das Zimmer, das sie verlassen hatten; die Musik mußte lauter aufspielen. Von dem Gepolter des Tanzes, dem Schreien, Jauchzen, Kreischen zitterte das Haus; kein anderer Laut war mehr zu hören.

Der Gerichtssaal drüben mit allen seinen Menschen lag für uns wie eine todte Masse da. Doch es sollte Leben in die Masse kommen. Wir hatten kein Auge von dort verwandt. Der Präsident hatte sich erhoben, das Papier in der Hand. Auch der Angeklagte war aufgestanden, er stand aufrecht, fest und muthig wie immer da. So blickte er dem Präsidenten, allen seinen Richtern furchtlos und ruhig in das Gesicht. Das Profil seines Gesichts war uns scharf zugewandt, wir sahen die feste, klare Ruhe darin.

„Mein Adolph!“ sprach die Frau leise vor sich hin, bewundernd und doch erbebend.

Der Präsident begann zu lesen, man konnte es nicht hören, man sah es. Der Angeklagte verwandte den ruhigen Blick nicht von ihm, er bewegte sich nicht. Aber auf einmal – „Ewiger Gott!“ schrie die unglückliche Frau vor mir auf.

„Sie haben ihm das Todesurtheil verkündet!“

Woher sie es wußte? Sie hatte es nicht gehört, man konnte keinen Laut hören, geschweige ein Wort verstehen. Auch ihre Augen hatten es ihr nicht sagen können. In dem Augenblicke, als sie es rief, war nicht die leiseste Bewegung im Saale wahrzunehmen. Der Angeklagte stand aufrecht und unbeweglich, wie er gestanden. Der Präsident las noch, wohl die Schlußformel des Erkenntnisses. Und doch wußte es die Unglückliche.

„Ich sah ihn erblassen,“ sagte sie mir nachher, „nur eine Secunde lang. Ich wollte mir gleich darauf sagen, es sei nicht möglich, daß ich in der weiten Entfernung, in dem Scheine von Kerzen einen flüchtigen Wechsel der Farbe hätte wahrnehmen können. Aber ich hatte es deutlich gesehen; es war der Schatten des Todes, der sich plötzlich durch sein Gesicht zog.“

Sie hatte Recht gehabt. Sie hatten ihm das Todesurtheil gesprochen. Gleich nachher zeigte Alles da drüben es an. Ich hatte einen raschen Blick in den Saal geworfen, der Schreck herrschte darin. Alle saßen oder standen sie dort wie erstarrt, mochten sie dieses Urtheil erwartet oder nicht erwartet haben. Es war der erste Augenblick der allgemeinen Ueberraschung.

Hinter uns rauschte die heisere Tanzmusik, lärmten die Tanzenden. Die Frau des Verurtheilten war aufgesprungen, auch sie stand einen Augenblick wie vernichtet da; ihr Gesicht hatte den


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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_413.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)