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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

No. 25.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Acht Tage waren vergangen. An einem klaren Herbstvormittage landete die Fähre die mit der Eisenbahn von Philadelphia gekommenen Passagiere auf New-Yorker Boden, und nach einem kurzen Gewühle rollten die harrenden Lohnkutscher und Gepäckwagen mit ihrer eingenommenen Last auseinander, während die übrige Menge sich nach den verschiedenen an der Landung ausmündenden Straßen zerstreute. Einer der Letzten, welche der Stadt zuschritten, war ein junger Mann, der die Augen über die nächste Umgebung schweifen ließ, als sei er noch unschlüssig, welche Richtung einzuschlagen; bis er endlich, als sei ihm ein leitender Gedanke gekommen, seinen Weg nach einem vor ihm liegenden Verkaufslocal nahm.

Max Reichardt war es, der nach einer vollbrachten Irrfahrt so arm an Hoffnung wie an Geld, mit leerem Herzen und gebeugtem Muthe wieder auf dem Boden angelangt war, den er vor noch nicht zwei Monaten voll glänzender Erwartungen, im Vollgefühle seiner Jugendkraft und seiner Kenntnisse zuerst betreten.

Nach seiner Flucht von St. Louis hatte er Cincinnati erreicht, aber es hielt ihn dort nicht, es trieb ihn fort – weiter nach New-York, in das Gewühl der Weltstadt, wo er das Nöthigste zum Leben noch am leichtesten finden konnte, sollte er auch Musik in einer Bierstube machen müssen. Auch fand er dort den Kupferschmidt, dessen Adresse er in sein Notizbuch verzeichnet. Er hatte, einmal zum Entschlusse gekommen, noch an demselben Nachmittage eine genaue Revision seiner Habseligkeiten vorgenommen, hatte von seinem reichlichen, kurz vor seiner Abreise nach Amerika erst angeschafften Kleidervorrath nur einen bessern Anzug und die nöthigste Wäsche zurückbehalten und das Uebrige, sammt seiner Uhrkette, in dem ersten Verkaufslocale, das sich ihm für seine Absicht bot, losgeschlagen, für den Koffer mit einigem Gewinn sich eine gebrauchte Reisetasche eingehandelt und so das Passagegeld zur Rückkehr nach New-York zusammengebracht. – Oft, wenn er die kurze und doch so inhaltschwere Zeit, seit er New-York verlassen, an sich vorüberziehen ließ, schüttelte er bitter den Kopf. Hätte er nicht jetzt im Besitze alles dessen, was Menschen Glück nennen, sein können, wenn er nicht der Narr seiner Gefühle gewesen wäre? Er durfte sich ja nicht einmal sagen, daß ihn bewußte Grundsätze geleitet, als er Harriet’s Liebe zurückgewiesen – und wenn er sich auch Alles wieder zurückrief, was er später sich selbst zu seiner Rechtfertigung angeführt. Alles, was er in dem langen Seelenergusse, welchen er dem Mädchen gesandt, niedergelegt, so wollte es doch seiner jetzigen Lage gegenüber kaum in’s Gewicht fallen. Unwillkürlich trat ein alter Vers in seine Erinnerung:

Wer einmal sein Glück verstoßen kann,
Den sieht’s auch im Leben nicht wieder an!

und es wurde ihm ganz so, als sei er bestimmt, ein illustrirendes Beispiel dafür abzugeben.

So war er in New-York angekommen, ohne einen Plan auch nur für seine nächsten Schritte entworfen zu haben, war aber endlich mit sich einig geworden, zuerst den Kupferschmied aufzusuchen, und wo möglich mit diesem zusammen seine Wohnung zu nehmen.

Im nächsten Verkaufslocale hatte er Einsicht in den dickleibigen Wohnungs-Anzeiger genommen, nach längerem Suchen unter den Hunderten von Johnsons auch glücklich die bezeichnete Firma, in deren Fabrik Meißner beschäftigt sein sollte, entdeckt und wanderte nun der oberen Stadt zu. Es waren nicht eben die freundlichsten Gefühle, welche ihn noch vor wenig Tagen gegen den Kupferschmied beseelt; dieser war es gewesen, welcher dem Agenten gegenüber ein zweifelhaftes Licht auf das Verhältniß zwischen Reichardt und Mathilden geworfen, und so die Ursache zu dem ganzen Unglücke in St. Louis gegeben hatte. Reichardt kannte die kaustische Manier, in welcher der Witzbold sich gern gehen ließ, so wenig auch seine Worte von einem bösen Herzen dictirt wurden; als aber dieser erste Eindruck vorüber war und die Erinnerung an das übrige treuherzige Wesen des Reisegefährten, an die vielfachen Beweise von Anhänglichkeit, welche dieser ihm während der Ueberfahrt gegeben, sich geltend machte, ließ er gern seinen Groll schwinden und nahm sich nur vor, ihm die ganzen Folgen, welche ein paar unvorsichtige Worte hervorzubringen im Stande sind, durch sein eigenes Beispiel vor die Seele zu führen.

Es war ein großes Gebäude in einer der Geschäftsstraßen der mittleren Stadt, von welchem dem Angekommenen die Firma „F. Johnson and Son“ in gewaltigen Lettern entgegenblickte. Der untere Raum, dessen nur durch eiserne Säulen getrennte Thüren weit offen standen, war mit langen, regelmäßigen Reihen über einander lagernder Fässer besetzt, während die linke Seitenmauer von vier kolossalen bis fast zur Decke aufsteigenden Holz-Bottichen eingenommen war und rechts eine Riesenhand die daneben befindliche Treppe hinauf nach der „Office“ wies. Reichardt warf unwillkürlich zuerst einen Blick über den ganzen, von seltener Ordnung und Reinlichkeit zeugenden Raum und trat dann auf einen zwischen den Fässern beschäftigten Arbeiter zu.

„Meißner?“ erwiderte der Angeredete auf Reichardt’s Frage

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_385.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)