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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

Ottilie Wildermuth.

Alter, mit der sie schwesterlich die Freuden und Leiden der Kindheit theilte, übergeben werden sollte.

Da wanderte sie denn in lichter Früh über den Berg hinüber und kehrte Abends nach Haus, oder sie verlebte ganze Wochen in dem Dorf, das durch ein alterthümliches Kloster, durch allerlei heimliche und unheimliche Plätzchen und verborgene Wiesengründe, an die sich zahlreiche Geistersagen knüpften, viel Anregendes für eine junge Phantasie hatte. Der Onkel verfuhr auch nicht eben systematisch bei seinem Unterricht, aber sein ganzes Wesen wirkte belebend und anregend; schade, daß er, ehe Ottilie dreizehn Jahre alt war, in eine entfernte Gegend versetzt wurde, – so blieb auch dies Wissen Stückwerk.

Was so an gründlicher Schulbildung versäumt blieb, das wurde theilweise ergänzt durch den fast unbewußten Einfluß gebildeter, geistig lebendiger Eltern. Der Vater besaß bei sehr vielseitigen Kenntnissen, bei warmem Interesse für jede Kunst, die ihn in dem bescheidenen Maßstabe seiner Mittel zum Beschützer aller schönen Künste in seiner Umgebung machte, eine äußerst lebendige Darstellungsgabe; die Mutter hatte durch ein reiches, tiefes Gemüth, eine lebhafte, heitere Phantasie, durch lebendigen Sinn und treues Gedächtniß für Dichtungen Alles, was eine warme Natur anregen und entwickeln kann.

Junge Künstler, reisende Sänger, sogar Declamatoren und Bauchredner, ja, zum Entsetzen der Mutter einmal eine musicirende Zigeunerbande kehrten in dem Vaterhause ein, dessen gastlicher Herr keinen, sei er arm oder reich, unerquickt ziehen ließ. Reisende Schauspielerbanden, die zu Zeiten ihren mangelhaften Tempel in dem Städtchen aufschlugen, übten einen fast magischen Einfluß auf die Phantasie des Kindes, und als sie vollends im zwölften Jahr mit Vater und Brüdern zum ersten Mal das Theater und die Kunstausstellung in der Residenz besuchen durfte, da ging ihr eine neue Wunderwelt auf.

Leichter zu erreichen und gewiß eben so bildend und befruchtend für das innere Leben waren die harmlosen Freuden, die jeder Tag brachte, die goldne Freiheit in zwanglosem Umhertreiben mit den Gespielen durch Feld und Wiesen, die Abendspaziergänge mit Vater und Brüdern und die erlaubten, oft auch geraubten Genüsse, welche die reiche Bibliothek des Vaters bot.

Unter die zahlreichen Liebhabereien des Vaters gehörte auch der Gartenbau. Zwei schöne Gärten waren reich bepflanzt mit den schönsten Tulpen, mannigfaltigen Rosen, blühenden Lauben, kleinen Gehölzen und seltenen Gesträuchen. Wenn auch die prächtigen Pflaumen-, Birn- und Apfelbäume den ersten Reiz für die Kinder hatten, so gab es doch neben dem materiellen Genuß reichen Stoff zu heiterer Arbeit, zu phantastischen Spielen – und köstlicher noch als das Alles waren die stillen Stunden in der grünen, blühenden Einsamkeit, das süße, bilderreiche Traumleben einer Kinderseele, das vielleicht unbewußt mächtiger als Menschenwort und Menschenthat an der Erziehung eines Herzens Theil hat.

Der Verkehr mit der weit verzweigten Familie wurde nach echt schwäbischer Sitte bis in’s dritte und vierte Glied aufrecht erhalten, Onkel und Tanten, Vettern und Bäschen kamen zu kürzern und längern Besuchen und wurden gastirt und bewirthet. Das großelterliche Haus – die Eltern der Mutter lebten im selben Orte – bildete einen äußerst behaglichen Mittelpunkt, die dicke Großmama, des Großvaters zweite Frau, mit dem rothwangigen, gutmüthigen Gesicht verstand so recht, es sich und Andern gut zu machen, und sorgte immer für häusliche Feste, die in der großen Gartenlaube oder in der Staatsstube mit den vielen Familienbildern gehalten wurden, von denen sie viel und lebendig zu erzählen wußte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_373.jpg&oldid=- (Version vom 18.6.2023)